Notizen (77)

Angenommen, man stürzt des Nachts getrieben von Albträumen und Heißhunger in die Küche und reißt den Kruzifixus von der Wand: wo beginnt man? Am Kopf oder an den Füßen? Entfernt man zuvor die Nägel, wie man bei einem Fisch die Gräten entfernt? Oder stellt man sich ans geöffnete Fenster und spuckt die unverdaulichen Reste in die Nacht hinaus? Draußen rutscht eine Schuhsohle über die Vogelleiber im Rinnstein. Die noch ofenwarme, mit dem Stanzblech ausgestanzte Heiliggeisttaube kräht wie ein Hahn, dreimal, als ein halb zerkauter Heilandsbatzen über die Pflastersteine springt. Die Nacht wird erst mit dem Aufwachen enden.

Notizen (75)

Es sei zugleich seltsam und folgerichtig, sagst du, während mein Finger ungefähre Kreise in den Sand auf deinem Bauch zeichnet, dass ausgerechnet ich fähig sei, ein Schweigen tief wie stille Wasser zu erzeugen; ausgerechnet ich, der ich mich des öfteren an Worte klammere wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz, ausgerechnet ich, der ich des öfteren Worte mit Steinen vergleiche – weil auch Worte ein Gewicht haben, fallen können –, verstünde mich darauf, ein Schweigen zu erzeugen, dessen Oberfläche still und glatt wie ein Spiegel sei, um dann nur wenige wohlbedachte und dadurch umso schmerzhaftere Worte hineinfallen zu lassen und, wiederum schweigend, das Ausbreiten der von ihnen erzeugten Wellen zu betrachten, auf deren kaum sichtbaren Kämmen meine noch unausgesprochenen Geschichten ans Ufer getragen würden, die merkwürdigen und losen Fragmente, die von fiebrigen Laubflecken auf dem Spiegel der Fischteiche handelten, von ertrunkenen Bienen im Haar noch oder wieder namenloser Frauen, die es stets für einen von uns beiden gegeben habe, von Frauen mit nassen Haaren, das ihnen im Nacken und auf dem Rücken klebe, wie Fäden in einen Webstuhl gespannt seien, oder vom Himmel, unter dem sie zum Liegen kämen und den ihre eigenen ungeborenen Kinder an eisernen Stangen über ihnen aufspannten und so den Zug der Töchter anführten, hinter ihnen die Tanten und Kusinen und Schwägerinnen, die Großmütter und Urgroßmütter, die längst abgehängt seien, die mit ihren ruinösen Zähnen in ihren ruinösen Elternhäusern säßen und an ihren Schicksalsfäden, nein, nicht webten, strickten, mit dem Klappern ihrer Stricknadeln einen Takt vorgebend, dem wir uns, sagst du, während ich schweige und die ungefähren Kreise im Sand auf deinem Bauch betrachte, zumindest für diesen verschwiegenen Sommer entzogen hätten.

Notizen (73)

An diesem Tag hatte der Projektor gestreikt, der für gewöhnlich die Nummer des Kirchenliedes und der zu singenden Strophe hinter dem Pult an die Chorwand warf, und so hatte der junge Priester, sichtlich nervös, die beiden Ziffern mit den Fingern seiner erhobenen Hände anzeigen müssen, lange, schmale Finger an Händen, die dir im Lichtstrahl des plötzlich anspringenden Projektors seltsam fragil, wie durchsichtig erschienen waren, und auch später hattest du mir noch öfter von diesen Händen erzählt, von dem Polaroid, auf dem sie in einem von wirren Laken verhüllten Schoß lagen und das du über Wochen in einem Geheimfach im Futter deiner Jacke – über der Brust – mit dir getragen und schließlich deiner restlichen Sammlung hinzugefügt hattest, aufbewahrt in einem Schuhkarton, den ich nie zu Gesicht bekommen habe, wie ich auch die Polaroids aus dem Zeltlager nie zu Gesicht bekommen habe, egal, wie oft und wie lange wir beide in den Erinnerungen an die Zeltlagerzeit und den Geschichten über die damaligen Kindheitsfeinde versunken waren.

Notizen (71)

Zur Unzeit aus dunklen Wassern geschreckt, aus der Umklammerung der Laken freigeschwommen. Tasten nach dem Lichtschalter, eine unbestimmbare Zeitspanne lang, bis mir einfällt: Es gibt keinen, wo ich schlafe. Stattdessen Tasten nach dem Notizbuch mit dem Einband aus Filz, dessen ich mich vergewissere – es liegt, wie jede Nacht, neben dem Kissen –, bevor ich die Augen schließe und die äußere wieder gegen die innere Schwärze tausche.

Was ich hatte notieren wollen, weiß ich erst am folgenden Tag: »Lasse ich mein Leben von der Angst diktieren oder nur meine Sätze?«

Notizen (68)

Fragt man ihre Tochter, bekommt man zur Antwort, sie rede kaum noch; andere sagen, sie nehme ihre Krankheit schweigend und duldsam hin, wie sie es ihr Leben lang gehalten habe – ihr Eheleben lang, fügen manche hinzu. Das erzählt man nicht, man stellt die Blumen und den Orangensaft auf dem Beistelltisch ab und sieht der Tochter zu, wie sie Creme aus einer keuchhustenden Cremetube drückt. Man verabschiedet sich mit diesem Bild: Ihr Schädel auf dem Kissen, das Gesicht zur Zimmerdecke, unter den zitternden Lidern bricht das Weiß im Auge durch wie aus einer eingeschlagenen Eierschale. Man nimmt das Bild mit und den Aufzug, auf dem Parkplatz trifft man ihn, er wartet am Auto und raucht billige Zigaretten Marke Schmuggelware, Krankenhäuser sind nichts für ihn, der seit ihrer Einweisung schon zwei Kilo abgenommen hat, der Angst hat, vom Fleisch zu fallen. Die Tochter kocht für zwei, stellt ihm den Suppenteller auf den Tisch, stellt ihm ein Bier dazu, im »Adler« bleibt die Küche kalt, die Gesundheitspolizei war da, das Schild mit der Aufschrift »Warmer Fleischkäse« dürfe man nicht mehr an die Straße stellen, sagt man ihm und stellt ihm ein Bier aus der Flasche hin und er setzt die Flasche an die Lippen und setzt sie ab und sagt, das hätte es früher nicht gegeben, früher hätte es Bier vom Fass gegeben und Scheibe um Scheibe warmen Fleischkäse, bis einem davon übel geworden sei und man wochenlang keinen warmen Fleischkäse mehr habe sehen können und dann, sagt er, habe es immer noch Ehefrauen gegeben, die in aller Herrgottsfrühe in der Küche gestanden und Bubespitzle gewalkt hätten, bis ihre Finger blutig gewesen seien.