Tagebuch (16)

Man stelle sich vor: einen Menschen, über den lediglich gesagt werden kann, er sei dagewesen, irgendwo. Hinzufügen kann, er habe sich nie zu lange und nie zu kurz an einem Ort aufgehalten, sein Kommen und Gehen – nie zu früh, nie zu spät – sei von der gleichen Diskretion gewesen wie seine Anwesenheit, wie sein Reden und Zuhören, das sich nie gegen den Lauf der Unterhaltung gestellt habe.

Und dann stelle man sich vor: einen der seltenen Momente, in denen dieser Mensch dennoch zum Mittelpunkt des Gesprächs wird, in seiner Abwesenheit sichtbar gemacht wird, weil eine aufgegriffene und wie zufällig in den Raum gestellte Äußerung seinerseits länger als ihr zugedacht im Raum steht, sich als Eintrittspunkt in eine menschliche Tiefe oder Untiefe entpuppt und die Anwesenden feststellen, dass ihnen die Worte über ihn und somit die Ausrüstung, das Kartenmaterial für diese Reise fehlen; und ihnen nur die Aussage bleibt, er sei dagewesen, irgendwo.

Als diesen Unkartografierten habe ich mich lange Zeit gesehen. Jeder Satz, den ich ins Notizbuch eingetragen habe, ist eine unleserliche Wegbeschreibung, die in die Wildnis des Banalen führt.

Ich weiß nicht, ob das Zusammensein mit Magdeleine und Keltermann die Folge oder der Auslöser dafür ist, dass ich mit einem Mal ein Gespür für meine körperliche Präsenz entwickle – nicht so wie Keltermann, der sich auf die Treppenstufen vor einer Gaststätte stellt, über die Köpfe der übrigen Schaulustigen hinweg einen Umzug verfolgt und ihn dadurch zu seinem Umzug macht, zu einem Spektakel aus Blechinstrumenten, Trachten und geschmückten Rinderleibern, das ihm, dem Touristen, die Hauptrolle und den Dorfbewohnern die der Statisten zuweist; eher in der Art: ich stehe neben Magdeleine in der Menge, ein Hemd, das ich über Jahre in aller Selbstverständlichkeit getragen habe, sitzt mir schlecht auf dem Leib, ich suche nach einem Taschentuch, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen und mache mich dadurch zum Komparsen oder – im besten Fall, wenn ich auf eine der Stufen unter ihm treten und mit einer überflüssigen, ungerichteten Geste das Wort an ihn richten würde – zu einer Figur im Buch, das Keltermann niemals schreiben wird.

Notizen (85)

Vor Aufregung erbricht das Kind sein Frühstück auf den weißen Stoff; zum Glück nur die Tischdecke. Später muss es entsagen. Entsagen? Dem Satan? Seinen Versuchungen auch? Später? Sein Lebtag lang muss es entsagen – muss, was man ihm vorgesagt hat, so lange aufsagen, bis es hohl geworden ist, entleert wurde, bis in den Zustand des Entsagtseins heraufgewürgt und wiedergekäut wurde. Ein Mohnkorn wandert nach innen, ins Fleisch.

Notizen (83)

Vom Kuhstall herübergekommen, von meinem Blut gekostet und sich daran gewöhnt, schnäkig geworden. Ich schlage sie aus der Luft – ein Reflex, Notwehr –, zerreibe sie zwischen den Fingern zu einem schwarzroten Punkt, den ich unter unsere gemeinsamen Nächte setze.

Notizen (81)

Seit ich weiß, dass es bereits eine frühere Version meiner selbst gab, dass ich einen Bruder im Geiste habe, bin ich das morsche Gestell einer Wiege aus Gebein und wippe an der Schwelle zwischen Schlafen und Wachen hin und her, mit einem Kiefer aus Porzellan.

Notizen (80)

Eine Schande sei es: der Altar zerstört, die Wände beschmiert. Man geht nach draußen und will noch zwei Marienlieder singen. Die Männer sind rotgesichtig, die Frauen riechen nach Piz Buin Sonnencreme. Aus einer ruinösen Mauer zieht er zwei Schiefersteine, die er – wäre sein Grab mit einer jungen Esche markiert oder einem Schlehenstrauch und gelänge es ihm in nächtlicher Anstrengung, den maßgeschneiderten Sarg freizulegen – dem Kind auf die Brust legen könnte, damit es einmal groß und stark werden kann.

Notizen (79)

Immer, wenn es mich plötzlich überkommt, wenn mich des Nachts oder in den stillen Zwischenstunden des Tages der kindische Wunsch überkommt, die Mutter möge sich vor mir rechtfertigen, stelle ich mir vor, wie sie mir, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen, einen Brief ans »Bärner Ländchen« diktiert, und ich stelle mir vor, wie ich ein Blatt Papier auf die Schreibmaschinenwalze klemme und schreibe:
Wenn vom Gestern nichts mehr bliebe, wenn man vom Gestern weggerissen werde, bevor man sich habe abnabeln können: es müsse doch verständlich sein. Wenn man ständig auf die immergleichen Worte zurückgreifen müsse, die man nicht aussprechen könne, weil sie einem schon von Anderen aus dem Mund genommen worden seien, von denen, die genau das Immergleiche aussprächen wie man selbst, weil sie das immergleiche Gestern teilten, weil das Teilen eines weggerissenen Gestern eine Immergleichmacherei sei: es müsse doch mehr als verständlich sein. Und man könne doch nur Stillschweigen wahren und stillschweigende Zustimmung erwarten, wenn nichts mehr zu sagen bleibe, wenn alles nur noch ein Nachsatz sei, eine billige Kopie oder eine Verfälschung oder Verspottung des Lebens vor dem toten Punkt, der aus dem Gestern das Gestern gemacht oder es als Ewiggestriges gekennzeichnet habe, das nur noch als in immergleiche Worte gefasste Erinnerungen existiere oder als jeder Beschreibung spottendes Totenbild des ersten und eigentlichen Sohnes, dem das Überschreiten des toten Punktes nicht möglich gewesen sei und der lediglich als ewiggestrige Fotografie existiere, von der ich heute nur sagen kann, die Mutter habe sie mir einmal aus der Hand genommen und meinem fragenden Blick geantwortet: »Das bist du.«