Zettelnotizen wie die oben abgebildete sind nur ein kleiner Teil des Textkorpus, das als Nachlass Martin Karrers angesehen werden kann; eines Autors, der das Schreiben von Notiz- und Tagebüchern stets als Möglichkeit verstand, die eigene Identität zu kodieren – sie zu verschlüsseln und damit entschlüsselbar zu machen.
»Es kann nicht darum gehen, sich abzuschreiben«, schreibt Karrer zu Beginn eines unvollendet gebliebenen Romans mit dem Titel »Die Irrungen des Martin K.«, und der gleiche Satz steht als Präambel seines Tagebuchs, das allein dadurch seine Orientierung auf einen potentiellen Leser offenbart und das ich hier, zusammen mit Karrers ungeordneten Notizen, unter dem – so hoffe ich – treffenden Namen »Ekel und Ekstase« präsentieren möchte. Ich wähle das Medium Blog aufgrund seiner inhärenten Fähigkeit, Zerstückeltem, Angefangenem und Abgebrochenem zugleich Individualität und eine sinnstiftende Identität zu verleihen. Der Gefahr, Martin Karrer dadurch selbst zur Figur zu machen, setze ich mich bewusst aus – denn wie anders soll man sich vom Ende her einem nähern, der bereits gegangen ist?
»Fliederblüten in längst abgelebten Stuben«, »Gelberübensaft« – wieviel von dem, was wir mit bestimmten Motiven verbinden, lässt sich durch sie kommunizieren? Und nur, weil wir etwas benennen können, es ablegen können in den »Registern von Damals und Heute« – was ist damit gewonnen im Ringen um eine souveräne Existenz, die doch zwangsläufig einen souveränen Ausdruck bedingt und vice versa?
Wenn sich der Anspruch auf Urheberschaft – eingedenk der Skepsis gegenüber allem Romanhaften, die sich durch das Werk Karrers zieht – nicht auf ge- oder beschriebenem Leben, sondern auf gelebtem Schreiben begründen lässt, wird klar, dass wir in Karrers Notizen und Tagebucheinträgen mehr sehen müssen als den Versuch, Alltag zeitnah in Worte zu fassen; es ist das Bestreben, die vom Strom (der Zeit und der Gedanken) glattgeschliffenen Kiesel aufzulesen.
– Jan Weidner