Notizen (115)

Mich mit rudernden Armen über meinen Kopf hinwegsetzen. Dem Fleischhauer Kummerer ins Gesicht blicken, bis sich die Larve seines Lächelns entpuppt.

Und wenn hinter all dem nur der Wunsch steht, einen Punkt machen zu können, ohne dafür einen Satz formulieren zu müssen; wenn ich sie auf dem Schreibtisch anhäufe, damit ich sie loswerden kann, die Notizen, die Fotografien, die Dokumente, die von Stichworten durchlöcherten Blätter, die Erzählungen der Mutter, in denen ich mich verbissen habe, in der Hoffnung, alles Überflüssige davon abzureißen, die Haut, die Muskeln, das Fett, bis nur noch das Skelett einer Aussage verbleibt – und stattdessen kaue ich darauf herum, versuche zu schlucken, bis mir ein Brocken Wörter im Hals steckt, den ich weder hinaus- noch hinunterwürgen kann.

Notizen (114)

Ein Satz wie ein Ast. Ein Ast wie eine geborstene Rippe im Familienstammbaum. Mit meinen Sätzen bin ich per du: Ihr die Nägel, ich der Sarg. Vor der Rodung, die meine Existenz in die Reihen meiner Ahnen geschlagen hat, gehe ich in den Anschlag der Schreibmaschine und warte, bis der Satz und meine Atmung verflachen. In meinen Sätzen bin ich perdu.

Wenn man »Ende« unter einen Text setzt, lässt man ihn dann verenden?

Notizen (112)

Aufschreiben, wo man sich im Moment des Aufschreibens befindet. Die Namen von Straßen und Plätzen notieren. Das Wetter und die Umstände des Aufenthalts in jener Straße, an jenem Platz notieren. Aufschreiben, was man im Moment des Aufschreibens denkt oder denken könnte. Aus allem einen Gedanken machen. Aus den Gedanken Stempel machen, die man den Dingen aufdrückt. Die Stempel wieder gegen die Namen von Straßen und Plätzen tauschen. Alles aufschreiben, alles. Sich nicht mehr dafür interessieren. Sich sagen, es stehe ja schon da.

Notizen (111)

Ich hatte Dir unlängst von den fernen und unmenschlichen Gesichtern der Heiligen geschrieben; heute sind sie mir wieder begegnet, in den Skulpturen der Chartreser Kathedrale, die man – diese Charakterköpfe – mit Vokabeln wie »tektonisch« bezeichnet. Immerhin bewegen sich auf ihren Schädelplatten ganze Kontinente. Womöglich liegt der Grund ihrer Fremdartigkeit in ihren Brauen, über denen sich die ganzen Lasten des Diesseits wie nach einem Erdrutsch aufgetürmt haben; oder in den Augen, denen die Farbe des Wirklichen abhanden gekommen ist, die sich in einem exaltierten Blick von uns modernen Menschen abgewandt und den Weg zurück in ihre Höhlen gefunden haben.
Jedenfalls drücken diese Gesichter eher metaphysischen Schrecken aus als Trost. In seinem unvollendet gebliebenen Epilog zum »Fluss ohne Ufer« nennt Hans Henny Jahnn das Mitleid die »ungöttlichste« aller menschlichen Eigenschaften. Und tatsächlich, wo sollte es zu finden sein, wenn nicht unter den aus dem Paradies Vertriebenen. Wenn die ewige Strafe des Menschen darin besteht, zwischen den Stühlen zu sitzen, dann dürfen wir von den Heiligen weder Solidarität noch Mitleid erwarten – sie haben schließlich den feigen Ausweg aus dem existenziellen Zweifel gewählt, ihre Mienen sind versteinert und zu keiner menschlichen Regung mehr fähig, und falls doch, dann nur noch zu einem sardonischen Lächeln. Wie viel sinnvoller ist es da, heilige Tiere zu verehren.

Notizen (109)

Der Traum beginnt, wo jede Erzählung ihren Anfang nimmt: im Wald, den Blick in die Baumkronen gerichtet, deren Äste einen fahlen und fernen Himmel zerschneiden; einen Himmel, dessen Fläche dünner wird, je länger man darauf blickt, durchlässig, licht, bis man begreift, dass man auf eine Membran blickt, von unzähligen Adern durchzogen, die sich verzweigen, in immer feinere Enden, und jedes dieser Enden lässt sich zurückverfolgen zu einem Punkt, an dem sie sich bündeln, hervorbrechen, einen Stamm bilden, der dem rückwärts fliehenden Blick nach oben folgt, sich verzweigt, in Äste, Blattwerk, bis man auf einen See aus Baumkronen blickt, die mit einem Mal in Bewegung geraten, als wäre dort, wo man eben noch gestanden haben mochte, ein Stein ins Wasser gefallen, und während man die Wellen betrachtet, die sich von diesem Punkt aus durch die Kronen bewegen, das Rauschen wahrnimmt, die Dichte und Körperlichkeit der Luft, stellt man sich vor, wie es wäre, auf freiem Feld zu stehen und infolge einer ebenso plötzlichen wie diffusen Ahnung zum Waldrand zu blicken, ins Dunkel zwischen den Bäumen, aus dem etwas verborgen, aber unaufhaltsam nach außen drängt.

Notizen (108)

Wir leben im Sitzen und sterben im Straßengraben. Wir schwänzen die Arbeit wie früher die Schule. Wir ertragen einander, weil wir noch nicht gelernt haben, alleine zu saufen. Wir fahren unseren Vätern hinterher, über ansteigende und abfallende Landstraßen, durch den Scheitelpunkt blinder Kurven, gegen Bäume und Zäune und Mauern. Wir markieren unseren Standort an Zäunen und Mauern, und wenn wir aus der Bahn geraten, wird auch diese Stelle markiert. Wir füllen die Straßengräber und Felder mit unseren Namen, und wenn es uns nicht mehr gibt, machen die Leute drei Kreuze. Wir bestellen noch ein Bier und noch einen Schnaps und denken gar nicht daran, nach Hause zu gehen. Unser Zuhause zerfressen die Ratten.

Notizen (107)

Der Knoten ineinander geflochtener Hände schlägt dumpf auf die Dielen. Rot treten die Fingerknöchel aus dem Knäuel. Im Erdgeschoss knallt das Kind panisch die Türen und ruft nach den Eltern. Das Kind hält alles für schicksalhaft und weiß noch nichts von der Lächerlichkeit des Lebens, die über seinem Kopf knarzt und ächzt.