Eine Schande sei es: der Altar zerstört, die Wände beschmiert. Man geht nach draußen und will noch zwei Marienlieder singen. Die Männer sind rotgesichtig, die Frauen riechen nach Piz Buin Sonnencreme. Aus einer ruinösen Mauer zieht er zwei Schiefersteine, die er – wäre sein Grab mit einer jungen Esche markiert oder einem Schlehenstrauch und gelänge es ihm in nächtlicher Anstrengung, den maßgeschneiderten Sarg freizulegen – dem Kind auf die Brust legen könnte, damit es einmal groß und stark werden kann.
Archiv für den Monat: Juli 2015
Notizen (79)
Immer, wenn es mich plötzlich überkommt, wenn mich des Nachts oder in den stillen Zwischenstunden des Tages der kindische Wunsch überkommt, die Mutter möge sich vor mir rechtfertigen, stelle ich mir vor, wie sie mir, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen, einen Brief ans »Bärner Ländchen« diktiert, und ich stelle mir vor, wie ich ein Blatt Papier auf die Schreibmaschinenwalze klemme und schreibe:
Wenn vom Gestern nichts mehr bliebe, wenn man vom Gestern weggerissen werde, bevor man sich habe abnabeln können: es müsse doch verständlich sein. Wenn man ständig auf die immergleichen Worte zurückgreifen müsse, die man nicht aussprechen könne, weil sie einem schon von Anderen aus dem Mund genommen worden seien, von denen, die genau das Immergleiche aussprächen wie man selbst, weil sie das immergleiche Gestern teilten, weil das Teilen eines weggerissenen Gestern eine Immergleichmacherei sei: es müsse doch mehr als verständlich sein. Und man könne doch nur Stillschweigen wahren und stillschweigende Zustimmung erwarten, wenn nichts mehr zu sagen bleibe, wenn alles nur noch ein Nachsatz sei, eine billige Kopie oder eine Verfälschung oder Verspottung des Lebens vor dem toten Punkt, der aus dem Gestern das Gestern gemacht oder es als Ewiggestriges gekennzeichnet habe, das nur noch als in immergleiche Worte gefasste Erinnerungen existiere oder als jeder Beschreibung spottendes Totenbild des ersten und eigentlichen Sohnes, dem das Überschreiten des toten Punktes nicht möglich gewesen sei und der lediglich als ewiggestrige Fotografie existiere, von der ich heute nur sagen kann, die Mutter habe sie mir einmal aus der Hand genommen und meinem fragenden Blick geantwortet: »Das bist du.«
Notizen (78)
Die Balken unserer Augen Cedern, die Kopfbretter Cypressen.
Wenn alles gesagt ist. Wenn alles in eins fällt. In Lücken zwischen den Fingern staut sich Unerträgliches an.
Notizen (77)
Angenommen, man stürzt des Nachts getrieben von Albträumen und Heißhunger in die Küche und reißt den Kruzifixus von der Wand: wo beginnt man? Am Kopf oder an den Füßen? Entfernt man zuvor die Nägel, wie man bei einem Fisch die Gräten entfernt? Oder stellt man sich ans geöffnete Fenster und spuckt die unverdaulichen Reste in die Nacht hinaus? Draußen rutscht eine Schuhsohle über die Vogelleiber im Rinnstein. Die noch ofenwarme, mit dem Stanzblech ausgestanzte Heiliggeisttaube kräht wie ein Hahn, dreimal, als ein halb zerkauter Heilandsbatzen über die Pflastersteine springt. Die Nacht wird erst mit dem Aufwachen enden.
Notizen (76)
Hellauf schreiend fallen Sonnenstrahlen ins Mahlwerk beladener Äste.
Notizen (75)
Es sei zugleich seltsam und folgerichtig, sagst du, während mein Finger ungefähre Kreise in den Sand auf deinem Bauch zeichnet, dass ausgerechnet ich fähig sei, ein Schweigen tief wie stille Wasser zu erzeugen; ausgerechnet ich, der ich mich des öfteren an Worte klammere wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz, ausgerechnet ich, der ich des öfteren Worte mit Steinen vergleiche – weil auch Worte ein Gewicht haben, fallen können –, verstünde mich darauf, ein Schweigen zu erzeugen, dessen Oberfläche still und glatt wie ein Spiegel sei, um dann nur wenige wohlbedachte und dadurch umso schmerzhaftere Worte hineinfallen zu lassen und, wiederum schweigend, das Ausbreiten der von ihnen erzeugten Wellen zu betrachten, auf deren kaum sichtbaren Kämmen meine noch unausgesprochenen Geschichten ans Ufer getragen würden, die merkwürdigen und losen Fragmente, die von fiebrigen Laubflecken auf dem Spiegel der Fischteiche handelten, von ertrunkenen Bienen im Haar noch oder wieder namenloser Frauen, die es stets für einen von uns beiden gegeben habe, von Frauen mit nassen Haaren, das ihnen im Nacken und auf dem Rücken klebe, wie Fäden in einen Webstuhl gespannt seien, oder vom Himmel, unter dem sie zum Liegen kämen und den ihre eigenen ungeborenen Kinder an eisernen Stangen über ihnen aufspannten und so den Zug der Töchter anführten, hinter ihnen die Tanten und Kusinen und Schwägerinnen, die Großmütter und Urgroßmütter, die längst abgehängt seien, die mit ihren ruinösen Zähnen in ihren ruinösen Elternhäusern säßen und an ihren Schicksalsfäden, nein, nicht webten, strickten, mit dem Klappern ihrer Stricknadeln einen Takt vorgebend, dem wir uns, sagst du, während ich schweige und die ungefähren Kreise im Sand auf deinem Bauch betrachte, zumindest für diesen verschwiegenen Sommer entzogen hätten.
Notizen (74)
Mit Tinte blau wie Blut Adern auf Strumpfhosenhaut malen.
Notizen (73)
An diesem Tag hatte der Projektor gestreikt, der für gewöhnlich die Nummer des Kirchenliedes und der zu singenden Strophe hinter dem Pult an die Chorwand warf, und so hatte der junge Priester, sichtlich nervös, die beiden Ziffern mit den Fingern seiner erhobenen Hände anzeigen müssen, lange, schmale Finger an Händen, die dir im Lichtstrahl des plötzlich anspringenden Projektors seltsam fragil, wie durchsichtig erschienen waren, und auch später hattest du mir noch öfter von diesen Händen erzählt, von dem Polaroid, auf dem sie in einem von wirren Laken verhüllten Schoß lagen und das du über Wochen in einem Geheimfach im Futter deiner Jacke – über der Brust – mit dir getragen und schließlich deiner restlichen Sammlung hinzugefügt hattest, aufbewahrt in einem Schuhkarton, den ich nie zu Gesicht bekommen habe, wie ich auch die Polaroids aus dem Zeltlager nie zu Gesicht bekommen habe, egal, wie oft und wie lange wir beide in den Erinnerungen an die Zeltlagerzeit und den Geschichten über die damaligen Kindheitsfeinde versunken waren.
Notizen (72)
Es regnet Bindfäden zwischen sich lösenden Mündern.