Notizen (57)

Die Tochter des Schlagersängers soll ins Wasser gegangen sein, unter Drogen. Beim ersten Mal, im Mississippi River, soll sie panische Angst bekommen haben, gegen die Strömung angeschwommen sein, bis man sie aus dem Wasser gefischt habe. Beim zweiten Mal, an der Ostsee, soll sie gerufen haben: »Ich gehöre ins Wasser.«
Nimm mal den Tintenkiller: »Mississippi« schreibt man mit vier »s«, »Mis-sis-sip-pi«. Ja, vier. Und zwei »p«. – Besser.

Notizen (56)

»[…] wenn mir von letzterem träumt, dann glotzt er mich durch dicke, kassengestellte Brillengläser an« – wollte ich den Blick des Totengräbers von Tramin anders, wie man sagt: »näher«, beschreiben, müsste ich ihn zunächst erwidern; ich müsste ebenso starr und unabänderlich in die Fotografie hineinblicken, wie er aus ihr herausblickt, müsste mir sagen, den Blick abzuwenden sei Feigheit – den Blickkontakt abbrechen hieße, einen Satz abbrechen.

Ich weiß aber: wollte ich den Blick halten, ihn zu Ende führen – wie ich einen Satz zu Ende führen will, statt ihn nur zu beenden –, würden die Glotzaugen des Totengräbers von Tramin plötzlich aus ihrer Starre erwachen, er würde an sich hinabsehen, an seinem Arm hinabsehen zur Hand, in der der Griff des Spatens ruht und die er drehen würde, nur leicht, damit sie das Spatenblatt wendet, und das Spatenblatt würde ihm das Gesicht zuwenden und zu ihm aufsehen, und er würde ihm mit ruhigem, aber bestimmtem Ton sagen: »Fass.«

Tagebuch (14)

»Historische Pfeilerbasilika mit Turmfassade«, lese ich, »außen gegliedert durch flache Wandpfeiler«, und: »Innenraum mit kassettierter Holzdecke. Aufwendige Farbfassung.«

Müßig, davon zu erzählen.
Neben mir hält Keltermann den Blick auf die Straße gerichtet, hält das Lenkrad mit der linken Hand, und ich halte einen abseitigen Vortrag, sage, kaum dass wir das Ortsschild passiert haben, auch dieses Dorf sei voll von Leuten, die sich nicht zerreißen könnten, die keine D-Züge seien und nur zwei Arme und zwei Beine hätten und eine Haut, aus der sie zwar fahren, aber nicht heraus könnten – als würde ich damit etwas sagen, das es wert sei, gesagt zu werden; und vielleicht, denke ich mir kurz, ohne in meinem Vortrag innezuhalten, rede ich nur deshalb in einer Tour von Ackermaschinen und Raiffeisenkrediten, von geschlossenen Wirtschaften und leerstehenden Lebensmittelläden, weil ich neidisch bin auf die stumme und selbstverständliche Anwesenheit von Magdeleine, die auf der Rückbank sitzt, eine Tabakdose zwischen den Knien, und ihm eine Zigarette nach der anderen dreht.

Ich rede auch noch, als wir das Auto auf dem Parkplatz unterhalb der Dorfkirche abstellen und aussteigen, es kümmert mich nicht, dass wir wie fehl am Platz am Fuß des Treppenaufgangs stehen, und statt meine Ledertasche mit dem Notizbuch und dem Fotoapparat zu nehmen, die Stufen zu nehmen, rede ich von Mähdreschern und Traktoren und Melkmaschinen, von Blechmonstern, die es abzustottern gelte, sobald man in dreckigen Hosen, den Kreditvertrag in der Hosentasche, die Raiffeisenbank verlasse, um danach sein Leben lang vor diesen Maschinen in die Knie zu gehen, im Büßerhemd, während der Schatten des Kirchturms den Sonnenstand anzeige und die Kirchenglocke den Takt der Handgriffe bemesse und irgendwann die Abende einläute, an denen nichts mehr laufe außer den Fernsehern, für die man das Dorf mit Antennen und Satellitenschüsseln verunstaltet habe: In jedem Wohnzimmer ein kaltes Lagerfeuer, das knistert und flackert, weil der Empfang schlecht ist und das Kruzifix am Türsturz neu ausgerichtet werden muss, sage ich und lache mir zu.

Nachts, wenn das Schreien der Stall- und Hofkatzen beginne, werfe man Knallfrösche nach ihnen, und morgens gieße man den nächtlichen Angstschweiß in den Rinnstein.

Ein stotternder Traktormotor lässt mich verstummen; das Singen einer Holzsäge löst ihn ab. Das Dorf erwacht aus seinem Mittagsschlaf, Garagentore öffnen sich, ein Motorrad springt mehrmals die Straße vom Dorf ins Neubaugebiet hinauf und wieder herab, bis es schließlich dorfauswärts ins Unhörbare verschwindet. Keltermann bläst Zigarettenrauch in die Luft.

Notizen (55)

In letzter Zeit zieht es mich des öfteren zur profanen Vorstellung der Reinkarnation. Dann stelle ich mir vor, wähle ich folgende Zustände für mich aus:
– Das Rauschen im Walde.
– Ein geflügeltes Wort, oder: – Eine Redensart, die man ins Feld führt.

Notizen (54)

Samstagabends sieht der Totengräber von Tramin fern, denn man zeigt die Samstagabendshows, die er so liebt. Im Unterhemd sitzt er auf der Couch und isst Würste mit im Kochwasser aufgeplatzten Bauchöffnungen von einem Teller, der mit weißen Hühnern und schwarzen Hähnen bemalt ist. Er wischt die Finger am Unterhemd ab und klopft die Asche der Vesperzigarette in die gähnende Mundöffnung der Bierdose, er sieht fern und denkt nicht mehr an das bevorstehende Wetter und die ausstehenden Arbeiten oder das Ausmaß eines Kindersargs.

Samstagnachts sieht der Totengräber von Tramin fern, denn man zeigt die Samstagnachtfilme, die man ihm unter der Woche vorenthält. Er zieht sich das Unterhemd unters Kinn und zwingt der Couch seinen Rhythmus und seinen Willen auf wie einem zuschanden gerittenen Pferd, das er mit schweren Handstreichen der Bildröhre entgegentreibt, in den nachtschwarzen Wald seiner Kindheitsängste hinein, wo der Vater sich auf die Mutter senkt und das barfüßige Kind im Flur steht und ahnt, wie der Vater die Mutter unter sich begräbt, und hört, wie eine Hand am Eisengitter des ehelichen Totenbetts rüttelt, und fürchtet, dass die Mutter nicht mehr wachzukriegen ist bis Sonntagmorgen und samstagabends träumt dem Totengräber von Tramin von den Bäumen fremder Frauen – sich verästelnde Berührungen –, bis seine leeren Augäpfel ohne Netzhaut und doppelten Boden an die Zimmerdecke fallen, wo unsichtbare Hände den Kruzifixus an einem Rosenkranz aus glatzköpfigen Eicheln aufknüpfen.

Sein Blut pulsiert unter der Pelle des gewienerten Würstchens, die Schlange seines kleinen Todes kriecht durchs Schamhaardickicht und sagt, es habe alles seine Ordnung, der Sonntag werde wieder dem Herrgott gehören.

Notizen (53)

Und wenn sie mir erzählt, was ich mir von ihr habe erzählen lassen, wieder und wieder – Rauschen, ihre Stimme, Räuspern, mein hörbares Schweigen, das Einrasten der Stopptaste, das Rattern der Spulen, über die das Band läuft, vor und zurück – und wieder die Stimme der Mutter, und was sie mir erzählt: Ich glaube es ihr nicht. Ich glaube ihre Erzählungen aus der Heimat nicht, die Jahreszahlen, die Ortsnamen glaube ich ihr nicht, die Stammbäume, die sie mir zum Beweis in die Hand drückt, die Heirats- und Geburtsurkunden, die Reliquien der Groß- und Urgroßeltern, die Fotografien, aus denen Gesichter starren, die ich nicht kenne, die mir fremd sind und deren Fremdheit ich mir so lange bewusst mache, bis ich mir selbst fremd werde, wie ich da grinsend in der Einfahrt stehe und die Schneeschaufel in den Fäustlingen halte und die Einfahrt in tausend kalten Wintern nicht vom Schnee befreit haben werde, weil sich nichts mehr ändern wird, weil ich mir fremd und zum Kind in mir geworden bin, das ein eingefrorenes Grinsen im Gesicht trägt, immergleich, vor Gegenden, die ich schon längst vergessen habe, die ich vergeblich von der Hirnrinde zu kratzen versuche wie Eingebranntes vom Kochtopfboden: In Tirol, in der Einfahrt, vor der Fototapete, vor dem Kindergarten, vor dem Christbaum, am Bodensee, am Waldrand, den Wald vor lauter Bäumen übersehend; mit dem Rücken dazu … Öder Löwenzahn in der Schotterstraße. Rostende Ackermaschinen. Vogelnester in ausgeschlachteten Autokarossen. Ich lege einen Laubteppich aus alten Fotografien, eine Windböe entlaubt die Baumkronen, treibt Stöße eng beschrifteter Blätter zusammen. Ein Zittern geht durch den Waldboden, die Typenhebel der Schreibmaschine fressen sich durchs Unterholz, schlagen ins Mauerwerk leerstehender Häuser, machen entvölkerte Dörfer dem Erdboden gleich – Schlag um Schlag schreibe ich uns weg, streiche uns Satz für Satz aus dem Leben, und was ich schreibe, glaube ich nicht. Die Fotografien, die letzten Beweisstücke, bleiche ich im ätzenden Wasser der Fischteiche.

Notizen (52)

Hier unten? Hier unten ändert sich nichts.
Hier unten sitzen sie immer noch: mit ihren geröteten Gesichtern – von der Landluft –, mit ihren schlechten – vom Rauchen – und ihren guten Zähnen – von der Versicherung –, mit ihren geschwollenen Ringfingern – vom Heiraten – am Stubentisch und stellen immer noch: ihre Bierflasche, sie sind auf dem Sprung, auf der abwaschbaren Tischdecke ab, ihre Piccoloflasche Sekt, die sie vor ein paar Wochen selbst vorbeigebracht hatten, als sie auf dem Sprung gewesen waren, die seitdem in der Geschenktüte mit der roten Kordel gestanden hatte. Bei Bier oder Sekt oder – zu besonderen Anlässen, wenn sie etwa zum Geburtstag auf einen Sprung vorbeigekommen sind – bei einem Schnaps schimpfen sie: auf die Zigeuner in der Verwandtschaft, auf die Zigeuner in den Arztpraxen, in einer Tour schimpfen sie: auf die Zigeuner in der Regierung und die Zigeuner aus dem Osten, die neue Zigeuner sind, weil es einen neuen Osten gibt, sie schimpfen: auf die Zigeuner im Zigeunerviertel und auf die falschen Schlangen im Pfarrgemeinderat und im Elternbeirat.
Man setzt Kinder in eine Welt, deren Muttersprache aus einem endlosen Zigeunerwortschatz besteht, die über jedem ungeborenen Kindskopf bereits einen Dachstuhl oder einen Verschlag aus Heimlichtuereien und Verleumdungen, aus Beschimpfungen und Verwünschungen gezimmert hat, in einer Sprache, in der man sogar Kinder zu Kindern von Zigeunern machen kann, sich sagen kann: was soll aus denen schon werden, bei diesem Vater, dieser Mutter, diesem Mensch, diesem Saumensch…? – oder: hoffentlich kommt es zu den Großeltern, hoffen wir das Beste – oder: ist es zu spät, es noch wegzumachen?

Beim Schreiben versuche ich, mir die Zahl – eine Zahl, sage ich mir, kann man sich einprägen, wo es keine Namen gibt – der weggemachten oder nicht nase-, sondern gerüchteweisen Kinder ins Gedächtnis zu rufen, die ich durchs Erzählen, auf Nachfragen, vom Hörensagen in ihrer halbherzigen Menschwerdung kennengelernt habe, und mir fällt auf, dass ich selbst noch in meiner armseligen Dorfsprache gefangen bin, die mir das Wort aus dem Mund nehmen oder mich mundtot machen will, und dass ich für diese Kinder keine Geschichte erfinden kann, die sie nicht im Abort enden lässt oder als bauchnabelzeichnendes Stigma der werdenden und nie gewordenen Mütter, der Frauen, die immer Töchter bleiben, die schweigend mit ihren weggemachten und zum Gesprächsthema gewordenen Kindern schwanger gehen, sie durchs Dorf tragen und in die Obhut des Dorftratsches geben, in der dürftigen Nachbarschaft der immergleichen Vorhaltungen und Geschichten aufwachsen lassen, als ungebetener und stummer Tischgast bei Kaffee und Mutterkuchen.