Notizen (26)

Und wenn sie mir dann meine Kindheit beschrieb: Das war ich nicht.

Übrig blieb der Satz: »Die Reisegruppe versammelt sich am Gedenkstein.« Das »Bärner Ländchen« hat ihn abgedruckt.

(Das Kind reißt sich von der Hand los und rennt, einen Zweig in die Luft schlagend, den Waldweg entlang, springt unbeholfen über Stock und Stein. Schiefer löst sich aus einer Mauer und schlägt die Böschung hinab. Krümel vom staubtrockenen Marmorkuchen in der mitgebrachten Tupperware. Die Frauen halten ihre Wiesenblumen in der Hand und langweilen sich, während er am Gartentor rüttelt – das morsche Holz ächzt, die Angeln knacken, man kann sie mit der Hand abbrechen – es schwingt ins Leere. Man kann noch in den Keller steigen, die Kellertreppe ist noch da. Im Gänsemarsch gehen sie die Reihe der Häuser ab, sie tragen die vom Bürgermeister überreichten Blumensträuße wie Schilde vor sich her. Hinter den Fenstern die, die sich jetzt Einheimische nennen. Eine steht im Garten, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, in Hotpants und mit einer Zigarette im Mundwinkel hängt sie Wäsche auf. Katzen streichen um ihre Füße. Der Bürgermeister blickt betreten und sagt: »Unser Dorf soll schöner werden.«)

Notizen (25)

Bevor du noch fragen musst: Nein, niemand muss eingesargt werden, damit ich zum Filzstift greife oder auf die mechanische Tastatur der Continental Schreibmaschine einhacke. Es genügt mir schon, wenn ich mir den »Mann von Tollund« rezitiere oder an den Xaver zurückdenke, mir den Xaver vors geistige Auge hole, wie er mit zitternden Fingern die Schublade des Wohnzimmerschranks durchwühlt, nach der Fotografie sucht. Mit stecknadelkopfgroßen Augen betrachten ihn auch die Porzellanfiguren, die verträumt unter niedergeschlagenen Wimpern hervor- und aus abgeblätterten Pupillen herausblickenden Schäferknaben und die rotbäckigen, pausbäckigen, rote und gelbe Äpfel in gerafften Schürzen sammelnden Mägdlein, die ich als Kind, wenn ich beim Xaver und der Tante zu Besuch war, aus der Vitrine nehmen und auf dem Tisch aufreihen durfte. Die gesuchte Fotografie – angeblich zeigt sie den Xaver und mich, das Kind, in der Hofeinfahrt stehend – findet sich nicht. Stattdessen bringt er aus dem Hausflur eine Plastiktüte, bis zum Rand gefüllt mit den Medikamenten der tablettensüchtigen Tante, die sich am Ende geweigert hatte, ins Krankenhaus zu gehen.

Wie ich dir das erzähle und du mit überkreuzten Beinen auf dem Bettzeug sitzt, ist er selbst schon längst in die Anstalt eingewiesen, weil ihn der Alkohol eingemacht hat. Was aus dem Hausrat wurde, aus den Tabletten, der Fotografie und den Porzellanfiguren, den Schäferknaben und Bernhardinerhunden und den rotbäckigen Mädchen, kann ich dir auch nicht sagen. Ausgewaschene und mit trübem Wasser gefüllte Einmachgläser stehen auf dem Fensterbrett, mit Draht umwickelte Blumenstängel baden ihre knochigen Beine, ihre knorpeligen Knie und Knöchel darin.

Tagebuch (8)

Ungesagt bleibt, dass Magdeleine sich keinen Begriff davon macht, auf wie wenige Worte sie einen sogenannten Menschen reduzieren können, insbesondere dann, wenn sie nicht über ein Kind schimpfen, sondern über einen vermeintlich Ebenbürtigen – wie man sagt: »Such dir jemanden in deiner Größe«, und ungesagt bleibt: um ihn dann zu reduzieren – einen, der ja schließlich die Wahl hatte, der sich freiwillig außerhalb ihrer Gemeinschaft und in die Sünde und somit in die Einsamkeit begeben hatte; der seinen letzten Rest Menschsein in dem Wort »Unmensch« suchen und bewahren soll und den sie eher als Verkehrsleiche denn als lebenden, schreibenden Menschen zurück ins Dorf lassen würden.

Ungesagt bleibt es nicht nur deshalb, weil plötzlich Keltermann im Zimmer steht und eine Flasche Wein zwischen uns abstellt; sondern auch, weil mir klar wird, dass zwischen uns noch gar kein Platz für diese Geschichte ist, auch nicht für das Kind in mir, das sich in der letzten Zeit immer lauter zu Wort gemeldet hat, immer quengeliger geworden ist und mich auf diese unsinnige Reise geschickt hat, mit der ich mich im Dorf endgültig unmöglich gemacht habe. Das Kind in mir, wird mir klar, hat mich in die Gesellschaft von Magdeleine und Keltermann, und somit in die Einsamkeit, geschickt. Früher oder später, hatte Keltermann gestern gesagt, kehre jeder wieder in die Dorfgemeinschaft zurück, die Dorfgemeinschaft, hatte er gesagt, hole sich früher oder später jeden wieder zurück, der es gewagt habe, auszuscheren – und wenn sie ihn dafür zum Spinner oder zum Verbrecher machen müsse.

Später der Gedanke an Flaschendrehen, Tat oder Wahrheit.

Des Nachts träumt mir von einem wie ein Osterfeuer brennenden Autowrack, von singendem Blech und den metallenen Zähnen des Kühlergrills, mit denen es sich im Baumstamm verbeißt. Im zerbrochenen Seitenspiegel rasiert sich der Fleischhauer Kummerer die Rübe weg. Regen prasselt zischend in die Flammen. In der feuchten Erde die Fußspuren des heiligen Sebastian und des heiligen Christopher, die zurück zur Straße, die Böschung hinauf führen, sich als Kette aus Blutsprenkeln auf dem Asphalt fortsetzen und schließlich, früher oder später, in die Marschroute der Himmelfahrtsprozession einscheren und ins Dorf zurückfinden, auf ein letztes Bier vor der Heimfahrt in den Falken einkehren, wo ich am Tresen sitze und meine Kapitulationserklärung auf den Bierdeckel schreibe: ihr die Nägel, ich der Sarg, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Bäume, in deren Rinde ich meine Kapitulationserklärung geritzt hatte, die Hochzeitspläne, von Amors Pfeil durchkreuzt.

Notizen (24)

Wenn ich ehrlich mit mir bin, dann sehne ich mich nach dem Tag, an dem ich mein Pulver verschossen haben und die schwarz auf weiß verstreuten Worte endlich nüchtern, ohne Gefühlsregung, als das betrachten werde, was sie sind: leere Hülsen.

Notizen (23)

An einem Wegekreuz kalte Zigarettenasche über des Gekreuzigten prächtige Zehen reiben, bis die eigenen Hände grau sind wie Stein. Ich wasche sie im Bach, der die winzigen, durch dieses sinnlose Ritual geheiligten und somit wasserfesten Aschereste ins Dorf tragen wird. Du stemmst deinen Rücken gegen den Stamm eines Baumes, an den sie sich nicht von dir hat binden lassen, und bleibst.
Ich stehle mich aus dem Blickfeld des schönen Leichnams.

Notizen (22)

Es hätte damals seinen Anfang nehmen und ein Ende haben können. Verliebt, verlobt, verheiratet, weiter wird’s gepfiffen. Zwar habe ich nie in kurzen Hosen auf der Steinmauer gesessen oder auf dem Brückengeländer balancierend den vorbeilaufenden, die erste eigene Handtasche gegen die miniberockten oder in enge Jeans gezwängten Hintern schlenkernden Mädels hinterhergepfiffen, dennoch erinnere ich mich genau, wie sich einmal beim Ausatmen in die kurzen Haare deines Nackens ein heller Pfiff aus meinen Lippen löste, der mich zu Tode erschreckte.

Notizen (21)

»Ich kann mich net zerreiße«, schreit deine Mutter, wieder und wieder, »Ich kann mich net zerreiße«, und du schaust sie nur an und glaubst ihr kein Wort, denn in diesem Moment scheint sie dir zu allem fähig.

Tagebuch (7)

Irgendwann, sagt sie, als ich ihr das Notizbuch zurückgebe und mir jedes weitere Wort verkneife, habe sie vor der Wahl gestanden, sich selbst oder dem Wort Schön zu misstrauen. Jedes Mal, wenn ihr ein solches Schön mitgegeben worden sei, es das Zurückgeben eines auf kleinkariertes Papier notierten Gedichtes oder eines Notizbuchs begleitet habe – schließlich nicht mehr zu unterscheiden gewesen sei, ob sie oder ihre Sätze gemeint seien – sei das Wort Schön ein Stück weit entwertet worden, sei unzuverlässig geworden, habe ihr Misstrauen geweckt.
Es gehöre zum Charakter der Dörfler, um Worte verlegen zu sein, sie stiefmütterlich zu behandeln, und deshalb seien sie bemüht, alles möglichst auf einen Satz, ein Wort zu reduzieren, selbst in ihrem endlosen Tratsch immer nur die gleichen Sätze und Wörter verwenden zu müssen – und dabei merkten sie nicht, wie sie den Menschen selbst auf einen Satz, ein Wort reduzierten, ihn in die Enge eines Satzes oder eines Wortes zwängten, denn selbst für ein Kind sei die Frage, wem es gehöre, schon zu klein, zu eng, und das Wort Schön, das aus einer falsch verstandenen Höflichkeit oder Bewunderung oder verliebten oder pubertären Regung das Aus- und Vorbeilesen ihrer Gedichte und Notizen begleite, komme ihr aus diesem Grund immer mehr wie ein Abtun, ein Abwerten vor.

Eine Woche lang war ihre Mutter nach der Trauerfeier noch verschleiert durchs Dorf gegangen, hatte sich mindestens einmal täglich auf den Weg zum Gottesacker gemacht, hatte ihr geselliges Wesen hinter einer Maske aus Schweigen versteckt, die sie nicht ohne einen gewissen Stolz, den das Wissen um das eigene Auserwähltsein – und sei es das Auserwähltsein zur Trauer – mit sich bringt. Ihre Stimme hatte sie für eine Woche eingetauscht gegen einen Platz im Chor der alten Weiber, die von früh bis spät in wechselnder Besetzung in den hinteren Kirchenbänken hocken und den Rosenkranz herunterleiern. Für eine Woche hatte sich Magdeleines Mutter in dieses heisere Raunen der krückstöckig und krummrückig, faltenröckig in den Kirchenbänken sitzenden Weiber gemischt, das mir stets als Schauer den Rücken herunterläuft und mich sprachlos, mit letztem Atem gegen die Sprache ankämpfend, zurücklässt. Für eine Woche hatte sie ihre Sprache gebenedeit, in der man ansonsten jeden wahlweise als Saumensch oder Tranfunzl bezeichnen kann, in der man abgrenzen und ausgrenzen kann, nach Fremden und Einheimischen trennen kann, je nachdem, ob jemand auf der Straße mit »’n Owed« oder mit »’n Obed« grüßt. »’n Obed« – lies: Guten Abend – sagt man auf der Straße nach dem Zwölfuhrläuten, »’n Obed« ist das einzige Wort, das sie in meiner Sprache noch für mich übrig haben, und nicht einmal das kriege ich heraus, wenn ich Magdeleines Mutter zwischen den Reihen der Gräber begegne und sie bei meinem Anblick »schier gar n Herzschlag« bekommt.