Notizen (66)

Poröse, zu ausgefransten Halmen gebündelte Sonnenstrahlen. Eidotter in einer stahlblauen Pfanne. Barfuß über die Disteln und in die Brennnesseln hinein. Von der Nasenspitze schält sich die Haut, Schweißtropfen auf den heißen Stein der Wangenknochen. Sand knirscht im Getriebe geballter Fäuste, in den kleinen fünffingrigen Knochenmühlen. Die den Speichelfluss hemmenden Zähne schlagen sie mit dem Bello aus dem Bachbett und füllen es mit Beton, bis ihm die Spucke wegbleibt. Neugierige Hühner schlingen die Hälse in die Maschen der Drahtzäune, rupfen ihre Federn und rammen sich die Federkiele in die Luftröhre, legen keuchend die Halsschlagader an Stacheldraht und bluten auf die kotbeschmierten Schuhabstreifer, begleitet vom Johlen der Kinder, die den vergeudeten Sommer feiern, bis sie daran irre werden; lass mich dein Hitzschlag sein.

Notizen (65)

»Dein nach innen gerichteter Blick unterbricht sich mit einem Aufschlag schwarzer Wimpern, die den aufwärts gerichteten Schwung einer Heugabel vollführen« – später werde ich versuchen, diesen Blick zu beschreiben, der mir: Gib, sagt und auf das Werkzeugregal, den Hammer zeigt und mich die folgende Zeitspanne mit allem füllen lässt, was mein Verhältnis zu dir beschreibt und sich wiederum nur in einer Kette immergleicher Relativsätze beschreiben lässt, nämlich mein Zögern und die Erinnerung an jede mir bekannte körperliche Versehrtheit — an den amputierten Daumen des Großonkels, der keinen Daumen und keine Heimat mehr hatte, an den kleinen Bruder der Gleichaltrigen, den ein Stein am Kopf traf, an das weiße Stück Knochen, das aus dem Unterarm des Schulkameraden ragte, an den heiligen Christopher, der sich die Leisten gezerrt hatte, mit Krücken auf den Spielplatz humpelte – und deine vorangegangene Aussage »Wir büßen die Sünden der Alten«, die mich an den Alten im Gasthof denken lässt, von dem ich mich so seltsam angezogen gefühlt hatte, und an seinen Hass auf den Enkelsohn, der im elterlichen Haus alle Spiegel zerschlagen und sich, was sonst, auf dem Dachboden aufgeknüpft hatte, dieser Künschtler, auf den der Alte lauthals geschimpft und auf den er gespuckt hatte, oder zumindest in sein Viertele Rotweinglas hatte er gespuckt und auf die Tischplatte mit den Knoten aus Kerzenwachs, die du mit den Fingernägeln abgerieben hattest, die jetzt den Nagelkopf halten und auf meine Entscheidung warten, denn auch am Ende dieser Zeitspanne spreizen deine Finger noch die Zehen, zwischen denen der rostige Nagel zittert wie ein gefangenes Insekt, und dein Blick hält meinem stand und höhlt den Kloß aus, der mir im Hals steckt, so dass ich fürchte, eine Glühbirne könnte mir im Hals stecken, und: Ein Edison’sches Menetekel, denke ich, während deine Finger den Augenblick dehnen und diese Zeitspanne meine Brust und den Raum und mein Verhältnis zu dir ausfüllt und alles verdrängt außer: denkst du, ich könnte dir den Hammer geben, denke ich, du könntest zuschlagen?

Notizen (63)

Ein eisiger Schauer kriecht meinen Handrücken herauf, ich zucke und lasse die Haut meiner Fingerkuppen auf dem gefrorenen Grabstein des Vaters zurück; stecke Zeige- und Mittelfinger in den Mund und schmecke mein eigen Fleisch und Blut. Mit ihren Stiefelspitzen bricht eine gebeugte, zittrige, ihrem Nelkenstrauß über dem Kiesweg drei kurze Stöße versetzende Alte Eisschollen auf, mahlt bleiche, steingewordene Knochenreste unter ihren Sohlen. Der steinerne Blick des Friedhofkruzifixus fixiert mich, der Kiesboden beäugt mich und rollt die Augäpfel, die von unterirdischen Verwesungsgasen aufgeschreckt zu vibrieren beginnen, sich lösen und übereinanderkullern; ein Raunen, das durch die Erde geht, durch den Grabstein mit der frischen, noch blutigen Fingerkuppenhaut: Dreht sich unter mir der Vater um, weil ich bei seinem Grab schwöre, der Sargnagel seiner Familie zu werden?
Mit dem Blütenwasserwedel der Alten könnte ich der heiligen Vogelscheuche drei kurze Stöße versetzen und mit der Zunge – da hilft kein Schütteln und kein Klopfen, am Schwanz hängt immer noch… – die Tropfen von der frischen, noch blutigen Vorhautkuppe auffangen.

Ich krümme mich in eine fötale Haltung, während ich dies schreibe, noch lieber aber würde ich meinen Körper ins Hohlkreuz stemmen, so dass mein Kopf am Ende dieser Brücke in meine Kindheit zurück auf dem kühlen und weichen Stein der Pfarrhausmauer zum Liegen kommt, den Blick zur Innenseite der Stirn gerichtet.

Notizen (59)

Der Satz, den ich nie schrieb, handelt von einem Jungen, den seine Kindheitsfeinde – sie, auf Fahrrädern, stellen ihn unweit der Wiesen am Zaun eines Hühnerstalls – zu sagen zwingen, er müsse groß.
Er soll nicht sagen: A-a machen, kacken, scheißen, haufeln… – er soll auch nicht in Hühner- oder Hundeexkremente greifen; stattdessen finden sie den einzigen Ausdruck, den er ums Verrecken meidet, und eher noch würde er in einem kindlichen Fiebertraum die güllebeschmierte Dorfstraße hinunter stolpern, während sich die Hosenbeine der heruntergelassenen Hosen um seine Knöchel wickeln.

Notizen (58)

Nochmals Xavers Hände, die von aschgrauer Farbe sind und reglos auf der Sessellehne liegen. Der Xaver hat die Nummer des Hausarztes, pardon, hat die Nummer vom Doktor Oehler auf einer Seite der Fernsehzeitschrift notiert, mit Kugelschreiber, mit einer das knisternde Papier zerreißenden Kugelschreibermine. Wachs vom Adventskranz ist aufs Papier getropft und getrocknet, reißt beim Ablösen dünne Streifen heraus. Die Nummer des Leichenbeschauers darunter, auch seine Handschrift. Angerufen hat er dort nicht. Angerufen hat er bei uns.