Notizen (71)

Zur Unzeit aus dunklen Wassern geschreckt, aus der Umklammerung der Laken freigeschwommen. Tasten nach dem Lichtschalter, eine unbestimmbare Zeitspanne lang, bis mir einfällt: Es gibt keinen, wo ich schlafe. Stattdessen Tasten nach dem Notizbuch mit dem Einband aus Filz, dessen ich mich vergewissere – es liegt, wie jede Nacht, neben dem Kissen –, bevor ich die Augen schließe und die äußere wieder gegen die innere Schwärze tausche.

Was ich hatte notieren wollen, weiß ich erst am folgenden Tag: »Lasse ich mein Leben von der Angst diktieren oder nur meine Sätze?«

Notizen (68)

Fragt man ihre Tochter, bekommt man zur Antwort, sie rede kaum noch; andere sagen, sie nehme ihre Krankheit schweigend und duldsam hin, wie sie es ihr Leben lang gehalten habe – ihr Eheleben lang, fügen manche hinzu. Das erzählt man nicht, man stellt die Blumen und den Orangensaft auf dem Beistelltisch ab und sieht der Tochter zu, wie sie Creme aus einer keuchhustenden Cremetube drückt. Man verabschiedet sich mit diesem Bild: Ihr Schädel auf dem Kissen, das Gesicht zur Zimmerdecke, unter den zitternden Lidern bricht das Weiß im Auge durch wie aus einer eingeschlagenen Eierschale. Man nimmt das Bild mit und den Aufzug, auf dem Parkplatz trifft man ihn, er wartet am Auto und raucht billige Zigaretten Marke Schmuggelware, Krankenhäuser sind nichts für ihn, der seit ihrer Einweisung schon zwei Kilo abgenommen hat, der Angst hat, vom Fleisch zu fallen. Die Tochter kocht für zwei, stellt ihm den Suppenteller auf den Tisch, stellt ihm ein Bier dazu, im »Adler« bleibt die Küche kalt, die Gesundheitspolizei war da, das Schild mit der Aufschrift »Warmer Fleischkäse« dürfe man nicht mehr an die Straße stellen, sagt man ihm und stellt ihm ein Bier aus der Flasche hin und er setzt die Flasche an die Lippen und setzt sie ab und sagt, das hätte es früher nicht gegeben, früher hätte es Bier vom Fass gegeben und Scheibe um Scheibe warmen Fleischkäse, bis einem davon übel geworden sei und man wochenlang keinen warmen Fleischkäse mehr habe sehen können und dann, sagt er, habe es immer noch Ehefrauen gegeben, die in aller Herrgottsfrühe in der Küche gestanden und Bubespitzle gewalkt hätten, bis ihre Finger blutig gewesen seien.

Tagebuch (15)

Ich betrete den Kirchenraum und weiß, dass mir nichts von diesem Tag bleiben wird.

Früher wäre mir das Dämmerlicht im Mittelschiff – »historische Pfeilerbasilika«, »kassettierte Holzdecke« – ein Ärgernis gewesen. Früher, als mir noch daran gelegen war, die Beschaffenheit der Oberflächen – Holz, Stein – sorgsam zu dokumentieren, sichtbar zu machen, meinen Fingern, die ich später über die auf dem Tisch ausgebreiteten Abzüge führte, die Illusion einer Struktur zu verschaffen; der Mutter zeigte ich die Abzüge und führte dabei meine Fingerkuppen über vermeintliche Risse im Holz oder Rillen im Stein, die ich als Narben wahrnahm oder als Lebenslinien, jedenfalls als etwas, das Merkmal eines Alters oder gelebten Lebens war und mir somit als Nachweis einer Wahrhaftigkeit diente, mit der ich vor der Mutter die Legende eines Heiligen oder die aus Inschriften zusammengereimte Biografie eines Stifters aufsagte und versuchte, aus deren religiöser Ekstase die ästhetische Ekstase meiner Nacherzählung zu machen, immer wieder mit Fingern und Augen die Anhaltspunkte suchend, die von der Fotografie hervorgerufene Erinnerung an ein tatsächliches Aufeinandertreffen: der heftige und doch kaum merkliche Sprung, den das Herz macht, wenn die Fingerkuppe einen Riss im Holz oder eine Rille im Stein entdeckt, und das damit verbundene jähe Bewusstsein, ein fremdes Werk zu berühren, das für die Ewigkeit bestimmt und dem Zerfall überantwortet ist.

Heute: knipse ich. Unsinnig, Keltermann oder Magdeleine davon zu berichten.

Unsinnig auch, der Kusine davon zu berichten. Der Mutter gehe es schlecht – eine solche Aussage, antworte ich ihr am Abend, sei wertlos, sei auch den Atem nicht wert, den es koste, sie zu treffen; eine solche Aussage, der Mutter gehe es schlecht, sage nämlich überhaupt nichts aus, weil sie keinen Kontext festlege, und weil sie keinen Kontext festlege, hänge sie zwangsläufig in der Luft oder anders: im Äther, verbessere ich mich, sie hänge im Äther, in den sie von ihr, der Kusine, hineingesprochen worden sei, und es sei nicht möglich, aus ihr, der Aussage, einen wertvollen Gedanken oder gar einen Entschluss zu ziehen; der Mutter gehe es immer schlechter, verbessere ich die Kusine, das sei eine Aussage, mit der etwas anzufangen sei, weil sie einen Kontext festlege, einen Kontext aus Tagen oder Wochen oder Monaten, die möglicherweise noch verblieben – dass sie, die Kusine, mir aber ausrichten müsse, der Mutter gehe es schlecht und sie frage nach mir, das zeige mir doch nur: die Mutter selbst denke noch gar nicht an eine verbleibende Zeit – denn, fahre ich fort, wäre in meiner Mutter ein Gedanke entstanden, der etwa besagte, es gehe zu Ende mit ihr, dann würde sie nicht nach mir fragen, sondern nach dem Pfarrer oder dem Notar, die ihr in diesem Fall sehr viel nützlicher wären; die Mutter, sage ich der Kusine, habe immer nur nach mir gefragt, wenn ich ihr hätte nützlich sein können, ich sei im Grunde erst interessant für sie geworden, als sie mich habe nutzen können – nutzen, wiederhole ich der Kusine, ich wolle nicht: ausnutzen sagen –, als sie mich habe nutzen können als Zuhörer und Chronist ihrer sogenannten Lebensgeschichte, und auch jetzt, sage ich der Kusine und lege auf, interessiere die Mutter an mir lediglich die Tatsache, dass ich nicht anwesend sei.

Notizen (67)

Ich könnte dich aufwecken oder warten, bis dir die Sonne, deren Strahlen durch die Seitenscheibe fallen, das Haar und die Haut deiner Schläfe versengt. Dein Vater zieht einen Vogelleib aus dem Kühlergrill und wirft ihn über die Leitplanke in den Straßengraben. Meine Tür öffnet zur Fahrbahnseite und ich spiele Freitodgedanken mit vorbeirauschenden Urlauberautos. Die Hitze lötet die Koffer aufs Autodach. Ob ich dich aufwecke oder es der Fliege überlasse, die wir bei unserer Abfahrt entführt haben? Deine Mutter schlägt ihre Zähne ins holzige Fruchtfleisch einer Birne und richtet ihre Sitzposition. Sie hat seit der Abfahrt nicht zurückgeblickt, genau, wie sie es angekündigt hatte. Auch den Apfel hatte sie dir blind nach hinten gereicht, hatte die Hand, die den für dich bestimmten Apfel gehalten hatte, nach hinten gestreckt und war sekundenlang in dieser Haltung verharrt. Sie rollt die Scheibe nach unten und wirft den Birnenbutzen dem Vogel hinterher. Einen Türschlag später legt dein Vater die Hände ans Lenkrad. Ob ich dich aufwecke? An deinen Haarspitzen beginnt es zu kokeln.