Notizen (51)

Mein Großvater, hat mir die Mutter gesagt, habe noch Pfeife geraucht. Beim Rauchen, wisse man heute, habe er sich den Tod geholt. Mein Vater – der zweite Mann meiner Mutter und somit der Schwiegersohn, den mein Großvater nie hatte – habe etwas darauf gehalten, noch nie in seinem Leben eine Zigarette angerührt zu haben, und es habe ihm trotzdem nichts genützt.

Mittlerweile geben die Frauen in der Familie das Rauchen auf, wenn sie schwanger werden. Manche fangen danach wieder an.

Als ich zum ersten Mal gesehen habe, wie du dir eine Zigarette angesteckt hast – hinterm Schuppen stehend, dem Wellblech zugewandt, den Widerschein des hinter vorgehaltener Hand entzündeten Feuerzeugs auf dem Gesicht –, habe ich sie dir aus der Hand geschlagen.

Tagebuch (13)

Der dritte Tag beginnt noch vor dem Morgengrauen.
Ich sitze an einem Schreibtisch, der nicht meiner ist, und spüre Magdeleine und Keltermann in meinem Rücken schlafen, und mit jeder Minute tropfen Gedanken in einer angenehmen und zugleich besorgniserregenden Langsamkeit in die Quadrate des Rasters, das unsere Pläne, die meine sind, bereits über den anbrechenden Tag gelegt haben. Mein Blick hängt den fallenden Gedanken nach, beobachtet, wie sie wahllos mal hier, mal dort in den freien Flächen landen – und weiß doch, dass es damit ein Ende haben wird, sobald das letzte Quadrat gefüllt sein, sobald es gelten wird, in der gebotenen Hektik aufzubrechen.

Möglicherweise hatte eine ähnliche Gewissheit die Mutter veranlasst, mir mein Versprechen abzunehmen, das nicht weniger enthielt, als dass ich ihr Leben aufschreiben würde. Ich, der ich bis dahin zwar geschrieben, nie aber aufgeschrieben hatte, weder mich selbst noch sonst jemanden aufgeschrieben hatte, musste ihr am Krankenbett versprechen, ihr Leben aufzuschreiben, wie sie es ausdrückte – und es war klar, dass sie mit ihrem »Mein Leben« dasjenige meinte, das sie sich und allen anderen, vor allem aber mir bislang vorenthalten hatte, dasjenige, das vor der Aussiedlung und somit vor meiner Geburt liegt, den beiden Punkten – die Aussiedlung, meine Geburt –, die das Ende ihres Lebens, zumindest ihres erzählens- und aufschreibenswerten Lebens markieren, weil es von da an nichts mehr von Wert gibt, nichts mehr zu erzählen oder aufzuschreiben gibt, weil die Chronistenpflicht dort endet, wo die Fotografien meiner Kindheit und meines Geburtsortes die weißen Seiten im Album ablösen. Fotografien kümmert es nicht, ob das, was sie dokumentieren, inhaltsleer oder bedeutsam ist.

Bei der Mutter, lasse ich einen tröstenden und verräterischen Gedankentropfen fallen, ist noch nicht von Minuten zu sprechen, die das Raster dessen vorgeben, was noch zu tun ist. Vielleicht von Jahren, von Monaten. Vielleicht von Wochen, sage ich mir, nicht aber von Tagen, auch nicht von den Tagen, die ich mir von der Mutter gestohlen habe, die ich mir angeeignet und mit den Requisiten meiner sinnlosen Recherche gefüllt habe: den Fotoapparat, das Notizbuch habe ich in die Tasche gepackt, den Stift und die Broschüren von Kapellen, Kirchen, Sehenswürdigkeiten, habe ich in die Tasche und die Tasche in den Kofferraum gepackt, habe den Kofferraum geschlossen und Magdeleine und Keltermann ins Auto gepackt und angepackt habe ich nichts außer dem Lenkrad und dem Schalthebel, denn Sinn und Zweck dieser Fahrt, sage ich mir wieder, war es, nichts anzupacken, mich davor zu drücken, etwas anpacken zu müssen, mich davonzustehlen vor meinem Versprechen und der Erkenntnis, dass ich es nicht werde einlösen können.

Notizen (50)

Beim Öffnen des Schlagbaums, sagt man mir, habe das Auto sie überrollt. Die Handbremse müsse sich gelöst haben, das Auto auf dem leicht abschüssigen Waldweg ins Rollen gekommen sein. Gegen Morgen, sagt man mir, sei sie ihren inneren Verletzungen erlegen.

Es darf mich interessieren, sage ich mir, weil wir gemeinsam zur Schule gegangen sind; ich darf auch dieses Schicksal sammeln und aufbewahren wie eine Ansichtskarte.

Notizen (49)

Sie muss erfahren haben, dass mein Schreiben mich zum Thema hat, denn sie fragt, ob ich mich bereits gefunden habe.
Ich antworte ihr nicht, dass es mir schon immer darum gegangen war, mich loszuwerden. Die Selbstverständlichkeit, bei mir zu sein, war mir schon immer suspekt gewesen, war mir schon immer wie ein Verrat an meiner eigenen Fremdheit vorgekommen, an den Möglichkeiten der Selbstbetrachtung, die mir meine eigene Fremdheit – die stets ein außer-mir-Sein war – bot.
Wollte ich, statt mich zu finden, mir fremd sein, besser, mir dessen bewusst werden, dass ich mir fremd war, musste ich lediglich den Kasten öffnen und die Fotografie heraussuchen, die das Kind zeigte, das ich einmal gewesen sein sollte. Ich musste mich lediglich darauf konzentrieren, mir diesen seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht des schlafenden Kindes zu vergegenwärtigen, mir zu vergegenwärtigen, dass mir nichts, was in diesem Ausdruck geschrieben stand, bekannt vorkam; was ich immer als Zeichen meiner eigenen Fremdheit deutete, die es mir, so dachte ich, einmal ermöglichen sollte, mich bis zum Ende auf- und davonzuschreiben.

Notizen (48)

Soll ich dir einen Witz erzählen?

Das Kind ist ein Stadtkind, seine Eltern sind Zugreiste. Weil es mit seinen Eltern zugreist ist, auch ein Zugreister ist, weil es als Stadtkind das Dorfleben und seine Sitten und Gebräuche nicht kennt, schwärzt das Kind den Bauern an, es hat gesehen, wie er einen Wurf Stallkatzen mit dem Schaufelblatt erschlagen hat.
Weil die Eltern Zugreiste sind und die Sitten und Gebräuche im Dorf nicht kennen, kommt es zur Anzeige. Zweihundert Mark Strafe muss der Bauer zahlen, so ein Witz.

Notizen (47)

Was vor meiner Geburt liegt, lasse ich mir erzählen – nicht aus Interesse, sondern weil es mir ermöglicht, nicht dabei zu sein, nicht teilnehmen und eine Rolle spielen zu müssen, die ich ohnehin nicht ausfüllen könnte.

Die Straße vor dem Haus ist nur wenig befahren. Einmal dringt das Geräusch von Pferdehufen – dorfauswärts liegt eine Reitschule – durchs gekippte Fenster und bildet den Taktgeber unseres kurzzeitigen Schweigens, vom Aufnahmegerät dokumentiert. Später kommuniziert es in unverständlichem Morsecode mit dem Anschlag der Schreibmaschine, die druckreife Buchstaben aufs Papier hämmert.

Ein Kugelschreiber handschreibt, zieht feine, silbrige Linien, wie sie Kufen im Eis hinterlassen. Eine Schreibfeder biegt ihren steifen Rücken, eine Bleistiftmine reibt sich auf. Eine Nadel sticht es unter die Haut, ein Messer ritzt es ins Brot*…

In den Häusern, höre ich ihn sagen, hätte sich der Feind eingerichtet, je nach Wohnfläche ein oder zwei Mann pro Haus. Sie hätten dort gesessen und mit selbstgedrehten Zigaretten zwischen ihren Fingern silbrige, nervöse Linien in die Luft gestikuliert. Manche unrasiert, das Gesicht von einem grauschwarzen Schnurrbart entmenscht. Tabak auf der Zungenspitze, Korken im Mund; mit schiefen Zähnen entkorkte Weinflaschen, wo man welche fand. Brotkrusten, trockenes Weißbrot, in die Milch eingebrockt. Milch und Käse von den beschlagnahmten Kühen des Molkereibetriebs. Die schweren Beine über die Armlehnen der eingestaubten und abgeklopften, der aus den Häusern, den leerstehenden, den geräumten, aus den Wohnstuben geräumten und zusammengetragenen, geschleppten Sitzmöbel geschlagen. Schulterklopfen auf die staubige Uniform.

Das Schlagen der Pferdehufe verklingt. Übrig bleibt das Hintergrundauschen der Aufnahme.

Zuvor habe tage- und wochenlang kalter Rauch über den Feldern gestanden. Einmal das Sirenengeheul aus Richtung der Granitolwerke, das den Volkssturm habe wecken sollen. Hinter den fliehenden Soldaten habe die Hitlerjugend ein paar Brücken gesprengt; das sei der Übermut und blinde Eifer der Jugend gewesen. Die Brücke bei den Granitolwerken sei gesprengt worden, eine steinerne beim Christbäcker und eine bei der Bergmühle. Tiefflieger seien wie Zugvögel die Eisenbahngleise abgeflogen. Schwarze Rauchsäulen hätten sich der Stadt genähert. Es sei eine Zeit glühender Lichter gewesen, in der der Horizont gewetterleuchtet habe. Wer nicht vor dem Unwetter geflohen sei, habe sich in den Häusern versteckt, habe versteckte Vorräte an Zucker und Fett angelegt. Fleisch habe es nur noch aus Notschlachtungen gegeben. Die leeren Augenhöhlen im Straßengraben liegender Rinder seien kleine Tümpel voll Regenwasser gewesen. Auch davon sei nicht zu erzählen. So früh im Jahr habe es noch keine Bienen gegeben, aber in den Kadavern habe man Honig gefunden. Man habe sich beholfen.
Man habe gewusst: man werde Freiwild sein. Zunächst habe sich die Sprache geändert. Aufschriften in deutscher Sprache seien entfernt oder übermalt, Straßen seien umbenannt worden. Der Kreuzberg sei zur Stalinhöhe geworden. Die versteckten Vorräte seien bald zur Neige gegangen. Man habe jeden Bissen bis zum Erbrechen gekaut und den letzten Tropfen Milch aus den verbliebenen Kühen gepresst. Manchmal hätten die Kinder, seltener die Erwachsenen, etwas Brot oder sonstige Lebensmittel vom Feind bekommen, der sich im Haus einquartiert habe. Der Feind, müsse man zu seiner Ehre sagen, sei nicht immer ein Unmensch gewesen. Im Gasthof Adler, am Ringplatz, sei eine Meldestelle für den Arbeitsdienst eingerichtet worden. Wer eine Arbeitstätigkeit nachweisen konnte, habe eine karge Ration Brot bekommen. An Fronleichnam habe man sie Altäre aufstellen lassen und Birkenschmuck vom Kreuzberg holen, auf dem bereits das Stalindenkmal gestanden habe. Man habe ihnen Beil und Säge in die Hand gedrückt.
Mit einem Rest Honig habe man den Apostel wundergeheilt, die hölzernen Finger wieder an die Hand geklebt, die beim Sturz die Speichertreppe hinunter abgebrochen seien. Heiligenfiguren, Kerzenhalter, das Messbesteck, alles sei aus der Dachkammer geräumt worden, wo man es zuvor eilig verstaut habe, als die rückziehenden Soldaten durch die Stadt gekommen seien, den Feind an den Fersen. Jetzt sei doch alles eingesammelt worden. Die Anweisung dazu habe der neue Pastor gegeben, ein deutsch sprechender Tscheche, der später am Tag vor Wut auf den improvisierten Altar gesprungen sei und in fremden Zungen geschimpft habe wie der Leibhaftige selbst; mit dem Fuß habe er aufgestampft, als wollte er die Erde spalten, da sei der Stein ins Rutschen, der Pastor sei ins Rutschen gekommen.

»Geduckt, den Bauch auf dem Erdboden, robben die Rinder auf die Stadt zu, ihre Schädel knapp über der Grasnarbe haltend. Stiefel treten in schlammige Pfützen, ein Bein verheddert sich im Stacheldraht«, lese ich mit Seitenblick in mein Notizbuch, während das Band weiterläuft.

Notschlachten müssen habe man eins der beiden Pferde, die den Munitionstransport gezogen hätten, der auf freiem Feld, unterhalb des Lausbergs in die Luft geflogen sei. Es sei der Nachlässigkeit beim Abladen geschuldet gewesen, obwohl die Russen später von Sabotage gesprochen hätten. Auf dem Aasplatz habe man die Munitionskisten abgeladen, die Granaten, Panzerfäuste – da müsse es passiert sein. Vorstellen müsse ich mir: die Luft, zur Faust geballt, die ihm die Jacke vom Leib gerissen habe. Die ohrenbetäubende Stille. Der Rauchpilz, bis zur besetzten Zündholzfabrik hin sichtbar. Nicht mehr zu erinnern die russischen Soldaten, wild gestikulierend, die tschechischen Partisanen. Zu Boden regnende Patronenhülsen und Granatsplitter.
Am Nachmittag habe man die zum Arbeitsdienst Abkommandierten zum Aasplatz, der schon vorher Aasplatz geheißen habe, geschickt, um das Massengrab auszuheben: zuunterst das tote Pferd, darüber die sechs Landsleute. Die Leichname der Russen und Tschechen seien überführt worden.
Jahre später habe er es aufgeschrieben, er habe das Massengrab besucht und die Namen aufgeschrieben. Er habe dem Pfarrer die Namen gemeldet, damit er sie in die Sterbematrik übertragen möge. Handschriftlich habe er notiert, er habe als einzig Überlebender zwei geplatzte Trommelfelle und einen Lidkrampf auf beiden Augen davongetragen. Das Versorgungsamt habe den Lidkrampf nicht als Kriegsleiden anerkennen wollen; vom Schreiben könne er mir eine Kopie anfertigen, sobald er es finde.
Draußen trabt ein Pferd die Straße entlang. Mit einem lauten Klappern, vom Aufnahmegerät dokumentiert, stellt er die Kaffeetasse auf dem Unterteller ab und schweigt. Statt zu fragen, wie gut und woher genau er die Mutter gekannt habe, schreibe ich leere Worte ins Notizbuch: »Schwef’lhelzle, Schwef’lhelzle muss mer han, dass mer alle Agenblick a Feuer machen kann.«

* Anspielend auf Rimbauds Les soldats coupent sur leur pain :
« C’est la vie ! »
– Jan Weidner

Notizen (45)

Der zieht um. Die zieht aus. Die bauen ein Haus. Der baut nur Mist. Die sind zusammen. Die sind getrennt. Die sind wieder zusammen. Die packt dem die Koffer. Der weiß von nichts. Die zieht zur Mutter. Die wollen heiraten. Die will die Scheidung. Der hat sich mit der außergerichtlich geeinigt. Die hat sich mit dem außerehelich vereinigt. Die haben Schulden. Der weiß von nichts. Die wissen weder ein noch aus. Die kommen nicht miteinander aus. Die hat kein Auskommen. Der säuft. Die nimmt Tabletten. Die betrügt den. Der schlägt die. Die ist schwanger. Die ist nur dick. Die weiß nicht von wem. Die will keine Kinder. Der kriegt keine Kinder hin. Der weiß von nichts. Der hängt auf der Couch. Der hängt an der Flasche. Der hängt am Tropf. Die hängt an dem. Die ist krank. Die ist nur dick. Der ist tot. Die sind getrennt. Die sind wieder zusammen.

Notizen (44)

Ich stelle mir vor, Michelangelo sei, als er den David schuf, bei der Detailarbeit etwa am Mund oder den Augen plötzlich der Fuß des Jünglings zum Klumpfuß geworden, oder einer der Arme habe sich, immer dünner und länger werdend, ins Unmäßige gestreckt und in den Winkeln der Werkstatt verloren – so, als habe allein die Abwesenheit der künstlerischen Konzentration zu einer willkürlichen Metamorphose des Materials geführt.
Das heißt es, denke ich mir, mit Erinnertem zu arbeiten.

Notizen (43)

Blicke schnellen Tellpfeilen gleich von der Sehne eines schlagartig gelösten Verlangens und verfehlen den Augapfel um einen Wimpernschlag.