Notizen (10)

Bei Gebeinen, auch tierischen, muss ich ja ohnehin immer an den Rosenkranz denken, an die »gebenedeite« Muttergottes und die Leibesfrucht, die holzige, den dornenbekrönt und blutend in der Mostkelter Stehenden*; sollte es mir aber irgendwann einmal egal sein, ob das Kind in mir nun auf einer Waldmühlbacher Wiese oder anderswo seine kreuz- und überbissigen Abdrücke im weißen Fleisch des vom Baum hängenden, pausbäckigen, preisgekrönten Jakob Fischer Streuobstapfels hinterlässt, den mürbe gekauten, giftigen Brocken allergisch wieder herauswürgend, sollte mich das irgendwann nicht mehr kümmern, dann treibe ich liebend gerne einen Nagel in mein Notizbuch und hänge es daran auf.

 

* Bezugnehmend auf das Motiv des Christus in der Kelter  – Jan Weidner

Tagebuch (4)

Auf Milchfüßen läuft eine Frau vorbei. Mein Daumen stolpert über die Rille im Porzellan der Kaffeetasse, aus dem Zuckerpäckchen rieselt Sand auf die Tischplatte. Musik dudelt aus dem Kassettenspieler einer im Schneidersitz auf dem Straßenpflaster hockenden Alten, zu deren Füßen ein Beutel mit Münzgeld liegt, eine Decke, auf der sie ihre Devotionalien ausgebreitet hat. Touristen belagern einen Drehständer mit Bodenseepostkarten, abschweifende Blicke streifen die auf der Straße sitzende, unablässig über einen hölzernen Kruzifixus streichelnde Alte, die eben unter Geckern dem Heiland den blauen Verschluss einer Oranginaflasche auf den Kopf gesteckt hat, wie man Fingerhüte auf Finger steckt. Zeige- und Mittelfinger der Alten liegen unter dem Brustkorb, in der Magengrube des zukünftigen Jesuleichnams und erzittern dann und wann unter seinen Spasmen; mit Zeige- und Mittelfinger tätschelt sie das feste, über den die Scham verhüllenden Lumpen verknotete Bäuchlein, um dem Heiland ein finales Bäuerchen zu entlocken – »S wird scho wiedr gut, heul e bissle, lach e bissle, loss e Fürzle fahre« – damit er seinen Geist in die schwüle Luft aushauchen und den Konstanzern am dritten Tag aufs Dach regnen kann. »Klementinen, prächtige, weihbewässerte Klementinen«, könnte der Obsthändler dann rufen, stattdessen steht er an den Kisten mit den grünen, in steifes Papier eingeschlagenen Äpfeln und starrt auf ein schwarzes Kreuz: Ein String ragt aus dem Hosenbund einer Touristin, die in die Hocke gegangen ist, um ihrer weinenden und die quietschende Gummihaut eines Luftballons einspeichelnden Tochter eine Wassermelonenscheibe gegen die aufgeschürfte Kniescheibe zu drücken. Die in Papier eingeschlagenen Äpfel leuchten vom Insektenvertilgungsmittel, das Kind schreit, ein Melonenkern klebt ihm auf der Schürfwunde und wird dort unter weißem Grind und einem blauen, in Melonenfruchtwasser getränkten Kinderleukoplast den Winter überdauern, um frühjahrs zu keimen. Der Kassettenspieler dudelt, es musizieren, schon verblichen, Mickey Mouse und Donald Duck. Auf einem gerahmten Andachtsbild hält ein Engel, ein von grünen und rosaroten Tüchern verhüllter Hermaphrodit mit einem Stern auf der von blonden Locken bekränzten Stirn, seine Hände über zwei fahlhäutige, am Rand eines Abgrunds spielende Kinder; Engels Hände und Antlitz sind fahl und von aschgrauer Farbe. Kastanien schlagen mit hellem Klang auf die feuchten Pflastersteine. Rote und grüne Fruchtgummis in Erdbeer und Waldmeister hält die Alte den Touristenkindern hin, die ihr das von den Eltern zugesteckte Postkartenwechselgeld in den Münzbeutel fallen lassen. Ein braungelocktes Mädchen mit großen, dunklen Augen hat sie zu sich gezogen und singsangt ihm ins Ohr. Neugeborene tragende Bastkörbe jagen den Rinnstein hinunter. Ich zerknülle das Zuckerpäckchen und ziehe den Füllfederhalter aus seiner Schlaufe am Notizbuch, lege meine Stirn in Falten und ziehe Furchen über das steife Papier. Ich spüre Keltermanns Blick auf mir ruhen, werde mich aber davor hüten, ihm zu verraten, dass ich soeben, zwischen Kaffee und Zigarette, diese gichtige Alte habe erfinden müssen, weil es hier sonst nichts gibt, das notierenswert wäre oder mit dem es mir gelingen könnte, das Kind in mir aus seinem Versteck im katholischen Bodenseezeltlager zu locken und ihm schreibend, zwischen Kaffee und Zigarette, auf die Schliche zu kommen. Keltermanns Bitte, die Rechnung zu übernehmen, quittiere ich mit einem Nicken.

Notizen (9)

Ich schreibe immer sorgsam und gewissenhaft, zum Schreiben verwende ich einen Füllfederhalter oder notfalls einen Kugelschreiber, nicht irgendeinen, sondern einen mit weicher, aschfarbene Kringel hinterlassender Mine, der in einer Schlaufe an meinem Notizbuch steckt. Weil ich mich beim Schreiben vielleicht im Geschriebenen, niemals aber im Schreibwerkzeug verbeiße, kann mir auch nicht, was ich mir schon oft vorstellte, die Tinte aus einem zerbissenen und zerkauten Filzstift den Mund füllen und von den schwarz gefärbten Lippen ins Notizbuch tropfen.

Tagebuch (3)

Im Winter, wenn die Kälte ihren Atem sichtbar werden lässt, können sie das Rauchen üben. Im Morgengrauen stehen sie an der Bushaltestelle und stoßen die Luft durch o-förmige Lippen, führen aus Spiel die klammen Finger zum Mund, zwischen denen die imaginierte Zigarette steckt.

Im Sommer stehen sie hinter dem Wartehäuschen und zünden zusammengerollte Papierbögen an.

Magdeleine – dem gestrigen Gottesdienst durfte sie im Kreis der Familie beiwohnen, in der Kirchenbank eingeschlossen von Vater und Mutter, Tante und Onkel auf der einen, die Kusinen auf der anderen Seite – gehört zu denen, die aus dem Spiel schon Ernst machen können: vom Stubenfenster aus beobachte ich, wie sie aus dem Schulbus steigt und sich eine Zigarette anzündet. Sie hat ihn überstanden, den jährlichen Abzählreim unter all den Dorftrotteln und Bauernkindern, die der Bus Morgen für Morgen wie Lämmer zur Schulbank geführt hatte, Jahr für Jahr die Dorfkinder und Bauerntrottel mit ihren Scout Schulranzen und Scout Kindsköpfen, mit ihren abgehefteten und unterschriebenen Kindheitsängsten und Sorgen – die ganze ihnen bekannten Welt im Diercke Weltatlas auf den Schultern – aufgesammelt und nachmittags wieder zu ihren Eltern gebracht hatte; die ihr Lebtag lang vielleicht den Gemeindebrief oder die Kochrezepte der Schwiegermutter oder den Katalog für Ackermaschinen oder das Schmierblatt der regionalen Tageszeitung, aber noch kein Buch in der Hand gehalten hatten, die trotzdem brav jedes Diktat und jeden Aufsatz unterzeichnet hatten, Schellen verteilt hatten, wo es angebracht gewesen war, damit das Kind später einmal auf die städtische Realschule oder aufs Gymnasium gehen konnte, anstatt schon im Nachbardorf an der Grund- und Hauptschule aussteigen zu müssen – damit es sitzenbleiben konnte, eine kilometerlange Gnadenfrist bekam, damit es ein paar neue Unfallkreuze zählen und den Horizont über die Dorfäcker hinaus erweitern konnte.

Magdeleines Schulweg, vorbei an verlassenen Gehöften, an Maisfeldern, Waldrändern, an Gesträuch, in das der Unfallwagen eine Bresche geschlagen hatte. Vorbei am gelben Ortsschild, Kreisstadt, Tollwut: Gefährdeter Bezirk.

Am Abend läutet es an der Tür, ich mache ein paar zaghafte Schritte in Richtung Flur, bevor ich mich eines Besseren besinne, das Licht in der Stube lösche und ans Fenster trete: im Lichtschein der Hoflampe steht Keltermann, eine Flasche Rotwein in der erhobenen Hand.

»Vierzehn Punkte für Kafka, Klassenbester.«

Dank meiner Hilfe, sagt er, als er sich im Flur an mir vorbeischiebt, fügt hinzu, das müsse doch gefeiert werden. Nebenan schlafe die Mutter, antworte ich überflüssigerweise und folge Keltermann in die Stube, wo er das Sofa in Beschlag nimmt. Es ist, denke ich mir, das Vorrecht der Jugendlichen, ihre eigenen Unsicherheiten zu übertünchen, indem sie andere in Verlegenheit bringen.

Magdeleine werde uns nach Konstanz begleiten, sagt er später, als ich ihn wieder zur Tür bringe und er sich im Flur an mir vorbeischiebt. Es gelingt mir nicht, mir ein Widerwort abzuringen.

Notizen (5)

Das Kind drückt das Fleisch einer Zwetsche auseinander, schiebt zuerst den Stein in den Mund, um mit knirschenden Zähnen die letzten Fasern Fruchtfleisch abzunagen.

Aufblickt ein Rinderschädel. Den Eimer voll Zwetschen und einen zwanzig Pfund schweren Schreibklotz am Bein.