Notizen (79)

Immer, wenn es mich plötzlich überkommt, wenn mich des Nachts oder in den stillen Zwischenstunden des Tages der kindische Wunsch überkommt, die Mutter möge sich vor mir rechtfertigen, stelle ich mir vor, wie sie mir, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen, einen Brief ans »Bärner Ländchen« diktiert, und ich stelle mir vor, wie ich ein Blatt Papier auf die Schreibmaschinenwalze klemme und schreibe:
Wenn vom Gestern nichts mehr bliebe, wenn man vom Gestern weggerissen werde, bevor man sich habe abnabeln können: es müsse doch verständlich sein. Wenn man ständig auf die immergleichen Worte zurückgreifen müsse, die man nicht aussprechen könne, weil sie einem schon von Anderen aus dem Mund genommen worden seien, von denen, die genau das Immergleiche aussprächen wie man selbst, weil sie das immergleiche Gestern teilten, weil das Teilen eines weggerissenen Gestern eine Immergleichmacherei sei: es müsse doch mehr als verständlich sein. Und man könne doch nur Stillschweigen wahren und stillschweigende Zustimmung erwarten, wenn nichts mehr zu sagen bleibe, wenn alles nur noch ein Nachsatz sei, eine billige Kopie oder eine Verfälschung oder Verspottung des Lebens vor dem toten Punkt, der aus dem Gestern das Gestern gemacht oder es als Ewiggestriges gekennzeichnet habe, das nur noch als in immergleiche Worte gefasste Erinnerungen existiere oder als jeder Beschreibung spottendes Totenbild des ersten und eigentlichen Sohnes, dem das Überschreiten des toten Punktes nicht möglich gewesen sei und der lediglich als ewiggestrige Fotografie existiere, von der ich heute nur sagen kann, die Mutter habe sie mir einmal aus der Hand genommen und meinem fragenden Blick geantwortet: »Das bist du.«

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