Notizen (96)

Das Haus versank am Ende einer Straße, die sich um fremde Wörter spannt; Orts- und Flussnamen, unter deren Oberfläche vielleicht die Erhebungen früherer Versionen auszumachen sind, wie sie als letzte Überreste aus vergrabenen Schilderungen ragen, unsichtbar, fühlbar vielleicht als geringfügige Irritationen unter der Haut der Fingerkuppe, denke ich mir und verfolge den Zeigefinger der Kioskinhaberin, der die Linie der Straße entlangfährt und dann zweimal kräftig, sicher ins Nichts tippt. Wie sie es nennt, erreicht mich nicht, und das Papier vergisst den Abdruck ihrer Hand. Später liegt die Karte gefaltet in meinem Schoß und die Straße vor uns mischt sich mit den Serpentinen eines Traumes, der mir träumte: ich saß in einem Taxi, es jagte einen Berg hinauf, den alle Erinnerungen an diesen Ort aufgeschichtet hatten, und ich wusste, dass mein Verderben und meine einzige Rettung sich in der Hoffnung trafen, nicht langsamer zu werden, in immer waghalsigeren Manövern den Kurven zu folgen, bis sich alles überschlagen und in eins fallen würde.

Notizen (94)

Es stimmt: Messdiener bin ich nie gewesen, und dennoch möchte ich einmal daran scheitern, eine Ministrantenkluft auszufüllen, möchte die Ärmel der Kutte ineinanderschieben und im Verborgenen die Hände ringen angesichts des Mysteriums einer in schwarze Kleider aufgelösten Gemeinde, mit der ich deiner Trauerfeier beiwohnen möchte, die Wangen vom Kerzenschein gerötet und das linke Auge zusammengekniffen, um mich des blinden Flecks im Gesichtsfeld zu versichern, den Pfarrer darin verschwinden zu lassen – da ich es nicht wage, die Hand aus dem Ärmel zu nehmen und mein Gesicht zu betasten, stelle ich mir vor, es steckt mir ein heiliger Knochensplitter im Augapfel – und während ich an die Zeit meiner nächtlichen Ängste denke, daran, wie ich im Licht der Nachttischlampe wieder und wieder die Stelle las, in der der jung verstorbene, von mir mehr als jeder andere Lieblingsautor geliebte Ducasse den Schlafenden einen lebenden Leichnam nennt und daran, wie ich dich irgendwann anrief und bat, den Notarzt zu rufen – und du riefst den Notarzt – möchte ich die meiner Rolle zugedachten Handreichungen mit der nötigen Zärtlichkeit und Hingabe ausführen, denn ich habe sie eingetauscht gegen die Erwartung, die man andernfalls an mich hätte: ich möge über dich doch ein paar Worte verlieren.

Notizen (93)

Lösungsorientiertes Lernen. Problem: wie macht man ein Kind?
Man kreuzt den stillgelegten Bahndamm und stellt sich dabei eine Wanderdüne vor. Man lässt Pupillen kentern und Blicke auf Grund laufen. Man steckt sich Schilfgras ins Auge und züchtet Kaulquappen im Tümpel der Tränendrüse. Man lässt den Kaulquappen freie Hand in der Wahl ihres Geschlechts und in der Ausbildung ihrer Geschlechtsorgane. Man hängt ihnen Blumengirlanden und Glocken um und bringt sie zum Almabtrieb. Im Tal schlüpfen Kinder aus Mottenkisten, denen man Geld in die Hand gibt, damit sie im Krämerladen Zigaretten holen können.

Notizen (92)

Ein Satz wird nicht dadurch wahr, dass man ihm das Aufschreiben versagt. Worte, die ich unterwegs im Notizbuch eintrage, klopfe ich ab, sobald ich über die Schwelle trete.

Man verschreibt sich der fixen Idee, mit einem Satz bis zum Kern vorzudringen; man treibt ihn wie einen Nagel ins Holz und stellt schließlich fest: es lässt sich nichts mehr daran aufhängen.

Notizen (90)

Wir fahren vorbei an desolaten Wiesen stehen tote Sonnenblumen mit Köpfen wie rostige Duschköpfe werfen wir auf den Wertstoffhof unserer Ethik ist Wahlfach von wöchentlich zwei Stunden sitzen wir an für einen Schuss ins Blaue raten wir dem Freund die Lottozahlen der nächsten Woche opfern wir zwei Stunden Arbeitszeit verbringen wir in leiser Enttäuschung empfinden wir nur noch für uns selbst kaufen wir Geschenke ohne Geschenkpapier stopfen wir in die Mülltonne am Straßenrand bevor wir fahren.

Notizen (89)

Bin ich erst einmal gestürzt, werden sie mir gegenüber von meinen ehemaligen Streifzügen aus dem Dorf hinaus sprechen. Niemand hat die genauen Routen aufgezeichnet; sie konnten immer nur von meinem Aufbruch oder meiner Rückkehr Notiz nehmen, sie zeitlich fixieren, wenn sie mit dem Aufleuchten der Laternen oder dem Schlagen der Kirchenglocken zusammenfielen. Von den Momenten des Kehrtmachens wissen sie nichts. Sie können nicht sagen, welche Regung sie einleitete: ein plötzliches Innehalten, ein Blick zurück oder ein erst langsamer werdendes, dann – sobald der Bogen für den Rückweg gefunden war – wieder beschleunigtes Ausschreiten. Sie können auch nicht wissen, dass die jeweilige Route meiner Streifzüge dem täglich schrumpfenden Maß meiner Wachheit entsprach; ihre Grenze wurde nicht von der Topografie gezogen, von Flussläufen, Kilometersteinen, Wegkreuzungen, sondern von der stets überfallartigen Erkenntnis meiner Müdigkeit und der damit einhergehenden Angst, den Punkt der sicheren Rückkehr überschreiten zu können.

Notizen (87)

Beobachtet habe ich den heiligen Sebastian, wie er mit Pfeil und Bogen spielte und Löcher ins Milchglas fremder Kellerfenster schoss; oder dabei, wie er Fürbittkerzen aus der Kirche stahl; Bonbon- und Fruchtgummitüten aus dem SPAR-Lebensmittelladen, deren knisternde Verpackungen er durch die daumengroßen Löcher in den Fensterscheiben schob. Meine Beobachtungen erhoben mich über niemanden, jeder im Dorf kannte die Liste seiner Verfehlungen. Ich kannte die von allen, auch von ihm selbst vergessenen Reste seiner Zukunftspläne, die sich wie Brotkrumen in den ausgefransten Rändern seiner Träume verfingen; Träume, in die er, wie ich mir ausmalte, mit Zahnschmerzen fiel und aus denen er mit Kopfschmerzen und gähnendem Unterkiefer erwachte; in denen sich die Strahlen einer Urlaubssonne auf die dünne Haut der Augenlider legten und die im Fahrtwind zuckende Plane eines Pritschenwagens zum Überholen aufforderte und schließlich nur eine Ahnung, die Reflexion einer zitternden Bewegung in der Scheibe hinterließ. Was er mir auf der Rückseite einer das Mittelmeer abbildenden Postkarte in hastig während einer Rast niedergekritzelten Sätzen hätte mitteilen können, hätte vielleicht genau dem entsprochen, was ich damals über den heiligen Sebastian zu sagen wusste.