Ich schreibe immer sorgsam und gewissenhaft, zum Schreiben verwende ich einen Füllfederhalter oder notfalls einen Kugelschreiber, nicht irgendeinen, sondern einen mit weicher, aschfarbene Kringel hinterlassender Mine, der in einer Schlaufe an meinem Notizbuch steckt. Weil ich mich beim Schreiben vielleicht im Geschriebenen, niemals aber im Schreibwerkzeug verbeiße, kann mir auch nicht, was ich mir schon oft vorstellte, die Tinte aus einem zerbissenen und zerkauten Filzstift den Mund füllen und von den schwarz gefärbten Lippen ins Notizbuch tropfen.
Notizen (8)
Von den Gleichaltrigen war sie die Erste, die auf dem Wäschetrockner ritt. Erziehung durch die Haushaltsgeräte.
Notizen (7)
Wenn wirklich, wie mir träumte, in meinem Kindsleib ein Baum wächst, an welchen Stellen knospe ich dann?
Tagebuch (3)
Im Winter, wenn die Kälte ihren Atem sichtbar werden lässt, können sie das Rauchen üben. Im Morgengrauen stehen sie an der Bushaltestelle und stoßen die Luft durch o-förmige Lippen, führen aus Spiel die klammen Finger zum Mund, zwischen denen die imaginierte Zigarette steckt.
Im Sommer stehen sie hinter dem Wartehäuschen und zünden zusammengerollte Papierbögen an.
Magdeleine – dem gestrigen Gottesdienst durfte sie im Kreis der Familie beiwohnen, in der Kirchenbank eingeschlossen von Vater und Mutter, Tante und Onkel auf der einen, die Kusinen auf der anderen Seite – gehört zu denen, die aus dem Spiel schon Ernst machen können: vom Stubenfenster aus beobachte ich, wie sie aus dem Schulbus steigt und sich eine Zigarette anzündet. Sie hat ihn überstanden, den jährlichen Abzählreim unter all den Dorftrotteln und Bauernkindern, die der Bus Morgen für Morgen wie Lämmer zur Schulbank geführt hatte, Jahr für Jahr die Dorfkinder und Bauerntrottel mit ihren Scout Schulranzen und Scout Kindsköpfen, mit ihren abgehefteten und unterschriebenen Kindheitsängsten und Sorgen – die ganze ihnen bekannten Welt im Diercke Weltatlas auf den Schultern – aufgesammelt und nachmittags wieder zu ihren Eltern gebracht hatte; die ihr Lebtag lang vielleicht den Gemeindebrief oder die Kochrezepte der Schwiegermutter oder den Katalog für Ackermaschinen oder das Schmierblatt der regionalen Tageszeitung, aber noch kein Buch in der Hand gehalten hatten, die trotzdem brav jedes Diktat und jeden Aufsatz unterzeichnet hatten, Schellen verteilt hatten, wo es angebracht gewesen war, damit das Kind später einmal auf die städtische Realschule oder aufs Gymnasium gehen konnte, anstatt schon im Nachbardorf an der Grund- und Hauptschule aussteigen zu müssen – damit es sitzenbleiben konnte, eine kilometerlange Gnadenfrist bekam, damit es ein paar neue Unfallkreuze zählen und den Horizont über die Dorfäcker hinaus erweitern konnte.
Magdeleines Schulweg, vorbei an verlassenen Gehöften, an Maisfeldern, Waldrändern, an Gesträuch, in das der Unfallwagen eine Bresche geschlagen hatte. Vorbei am gelben Ortsschild, Kreisstadt, Tollwut: Gefährdeter Bezirk.
Am Abend läutet es an der Tür, ich mache ein paar zaghafte Schritte in Richtung Flur, bevor ich mich eines Besseren besinne, das Licht in der Stube lösche und ans Fenster trete: im Lichtschein der Hoflampe steht Keltermann, eine Flasche Rotwein in der erhobenen Hand.
»Vierzehn Punkte für Kafka, Klassenbester.«
Dank meiner Hilfe, sagt er, als er sich im Flur an mir vorbeischiebt, fügt hinzu, das müsse doch gefeiert werden. Nebenan schlafe die Mutter, antworte ich überflüssigerweise und folge Keltermann in die Stube, wo er das Sofa in Beschlag nimmt. Es ist, denke ich mir, das Vorrecht der Jugendlichen, ihre eigenen Unsicherheiten zu übertünchen, indem sie andere in Verlegenheit bringen.
Magdeleine werde uns nach Konstanz begleiten, sagt er später, als ich ihn wieder zur Tür bringe und er sich im Flur an mir vorbeischiebt. Es gelingt mir nicht, mir ein Widerwort abzuringen.
Notizen (6)
Der Jungfrau Maria platzt die Fruchtblase, Flüssigkeit rinnt ihre Schenkel entlang und tropft fahle, ranzige Sonnen auf den nackten Kirchenboden.
Notizen (5)
Das Kind drückt das Fleisch einer Zwetsche auseinander, schiebt zuerst den Stein in den Mund, um mit knirschenden Zähnen die letzten Fasern Fruchtfleisch abzunagen.
Aufblickt ein Rinderschädel. Den Eimer voll Zwetschen und einen zwanzig Pfund schweren Schreibklotz am Bein.
Notizen (4)
Seit ich ihre Fotografien schwarz auf weiß gesehen habe, kann ich mich nicht mehr von diesen beiden Männern lösen, weder vom Fleischhauer Kummerer noch vom Totengräber von Tramin; wenn mir von letzterem träumt, dann glotzt er mich durch dicke, kassengestellte Brillengläser an und bleckt die schiefen Grabsteinzähne, bis ich mich irgendwann aus den Laken schäle und ein, zwei Sätze ins kleinkarierte Notizbuch schreibe, das die Maserung einer Krokodilshaut hat.
Tagebuch (2)
Unter Glockenläuten, geläutert, strömen sie in die Kirche, neugierig beäugt sie das ungehobelte Jesuskind unter Wimpern, in denen noch die Sägespäne kleben. Sie tauchen spitze Finger ins Weihwasserbecken und malen sich das Kreuzzeichen auf die Stirn, führen die Fingerkuppen zur Nase und atmen für einen Moment den zugleich beißenden und betörenden Geruch von Benzin ein.
Eine seltsame Stimmung überkommt die Anwesenden und löst sich nach und nach in Wohlgefallen auf, schon genügen den Ersten die Fingerkuppen nicht mehr, sie tauchen die ganze Hand ins Weihwasserbecken oder berühren im Vorbeigehen mit nassen Patschehänden die Zehen des Jesuskindes, nein, es ist nicht kitzelig, es bleibt stumm und presst die Lippen aufeinander, dennoch breitet sich, anfangs kaum hörbar, ein Kichern im Kirchenraum aus, schwillt zu einem lauthalsigen Lachen an, das von den Wänden widerhallt und im Kreuzgang echot; dem Jesuskind blättert die Farbe von den lackierten Zehennägeln, der Pfarrer, das schüttere Haar in wirren Strähnen und ein irres Funkeln in den Augen, taucht einen Rosshaarpinsel in einen Eimer Bondex Holzlasur und schreitet unter einer Litanei von Segnungen die aufgereihten Benzinkanister ab, den Pinsel wie einen Weihwassersprenger in die Luft stoßend. Man greift sich Kanister um Kanister und beginnt damit, das Kirchenmobiliar zu segnen, wie begossene Pudel stehen die heiligen Schnitzfiguren in ihren Mauernischen, ein öliger Film rinnt ihnen vom Haupt bis an die Füße, sammelt sich am Sockel in schillernden Pfützen. Erste Spritzer erreichen die Empore und ziehen dunkle Schlieren über die kassettierte Holzdecke. Ein Rinnsal klettert über die Stufen der Kirchentreppe nach unten und sammelt sich auf dem Trottoir, zeichnet ein mäanderndes Muster ins Pflaster, schwillt zu einem Bach an, der die Dorfstraße hinunterläuft und in den Holzweg hinein, zum Wiesental hinaus, wo das Kind in mir auf der gefrorenen Erde sitzt und mit einer Zündholzschachtel hantiert, den vor ihm im Gras aufgebahrten Heuschrecken Fürbittkerzen abbrennt, um die Totenruhe zu stören, den Gottesacker aufwühlen zu lassen von heuschreckenköpfigen Gestalten, die sich vor lauter Lachen die Bäuche halten und sich in ihren Gräbern hin und her werfen – sie, denen man für gewöhnlich mit einem Nelkenstrauß das zähneklappernde Maul stopft, soll keiner mehr totschweigen können. Eine Benzinlache bildet sich zu Füßen des Kindes in mir, das mit dem Feuer spielt und die Hymne der Zündholzfabrik summt, »Schwef’lhelzle, Schwef’lhelzle muss mer han, dass mer alle Agenblick a Feuer machen kann.«
Ich sitze in der Kirchenbank und blicke zum Heiland, den sie für den heutigen Tag schick gemacht haben – die Lumpen, die man hinterm Schuppen gefunden hatte, haben sie ihm um die magersüchtigen Hüften gewickelt und unter dem festen, geblähten Bäuchlein verknotet. Etwas stiehlt sich in seine Leichenbittermiene, er riecht Lunte, rümpft die Nase und verdreht die Augen, lässt seine Pupillen auf Grund laufen, versenkt sie im Schilf seiner Wimpern. Feuer frei, wenn ihr das Weiße in den Augen seht.
Notizen (3)
Gläubig, ich? Nein, ich kann mich nur wundern.
Notizen (2)
Noch steht sie mir offen, noch habe ich einen Fuß in der Kirchentür. Die Heiliggeisttaube wittert – ruckedigu – das warme Blut, das langsam meinen Sonntagsschuh füllt. Ich könnte sie rupfen und mir in mühsamer und letztlich vergebener Liebesmüh einen Federkiel herstellen, damit ich endlich wieder Freude am Schreiben finde – oder ich stecke dem Kind das weiße Gefieder ins Haupthaar und stemme es, mit fremden Federn geschmückt, an den Hüften in die Höhe, »Heiland reiß den Himmel auf«, könnte ich rufen, während die Rippen meiner Finger ein pochendes Kinderherz umklammern.