Tagebuch (3)

Im Winter, wenn die Kälte ihren Atem sichtbar werden lässt, können sie das Rauchen üben. Im Morgengrauen stehen sie an der Bushaltestelle und stoßen die Luft durch o-förmige Lippen, führen aus Spiel die klammen Finger zum Mund, zwischen denen die imaginierte Zigarette steckt.

Im Sommer stehen sie hinter dem Wartehäuschen und zünden zusammengerollte Papierbögen an.

Magdeleine – dem gestrigen Gottesdienst durfte sie im Kreis der Familie beiwohnen, in der Kirchenbank eingeschlossen von Vater und Mutter, Tante und Onkel auf der einen, die Kusinen auf der anderen Seite – gehört zu denen, die aus dem Spiel schon Ernst machen können: vom Stubenfenster aus beobachte ich, wie sie aus dem Schulbus steigt und sich eine Zigarette anzündet. Sie hat ihn überstanden, den jährlichen Abzählreim unter all den Dorftrotteln und Bauernkindern, die der Bus Morgen für Morgen wie Lämmer zur Schulbank geführt hatte, Jahr für Jahr die Dorfkinder und Bauerntrottel mit ihren Scout Schulranzen und Scout Kindsköpfen, mit ihren abgehefteten und unterschriebenen Kindheitsängsten und Sorgen – die ganze ihnen bekannten Welt im Diercke Weltatlas auf den Schultern – aufgesammelt und nachmittags wieder zu ihren Eltern gebracht hatte; die ihr Lebtag lang vielleicht den Gemeindebrief oder die Kochrezepte der Schwiegermutter oder den Katalog für Ackermaschinen oder das Schmierblatt der regionalen Tageszeitung, aber noch kein Buch in der Hand gehalten hatten, die trotzdem brav jedes Diktat und jeden Aufsatz unterzeichnet hatten, Schellen verteilt hatten, wo es angebracht gewesen war, damit das Kind später einmal auf die städtische Realschule oder aufs Gymnasium gehen konnte, anstatt schon im Nachbardorf an der Grund- und Hauptschule aussteigen zu müssen – damit es sitzenbleiben konnte, eine kilometerlange Gnadenfrist bekam, damit es ein paar neue Unfallkreuze zählen und den Horizont über die Dorfäcker hinaus erweitern konnte.

Magdeleines Schulweg, vorbei an verlassenen Gehöften, an Maisfeldern, Waldrändern, an Gesträuch, in das der Unfallwagen eine Bresche geschlagen hatte. Vorbei am gelben Ortsschild, Kreisstadt, Tollwut: Gefährdeter Bezirk.

Am Abend läutet es an der Tür, ich mache ein paar zaghafte Schritte in Richtung Flur, bevor ich mich eines Besseren besinne, das Licht in der Stube lösche und ans Fenster trete: im Lichtschein der Hoflampe steht Keltermann, eine Flasche Rotwein in der erhobenen Hand.

»Vierzehn Punkte für Kafka, Klassenbester.«

Dank meiner Hilfe, sagt er, als er sich im Flur an mir vorbeischiebt, fügt hinzu, das müsse doch gefeiert werden. Nebenan schlafe die Mutter, antworte ich überflüssigerweise und folge Keltermann in die Stube, wo er das Sofa in Beschlag nimmt. Es ist, denke ich mir, das Vorrecht der Jugendlichen, ihre eigenen Unsicherheiten zu übertünchen, indem sie andere in Verlegenheit bringen.

Magdeleine werde uns nach Konstanz begleiten, sagt er später, als ich ihn wieder zur Tür bringe und er sich im Flur an mir vorbeischiebt. Es gelingt mir nicht, mir ein Widerwort abzuringen.

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