Tagebuch (15)

Ich betrete den Kirchenraum und weiß, dass mir nichts von diesem Tag bleiben wird.

Früher wäre mir das Dämmerlicht im Mittelschiff – »historische Pfeilerbasilika«, »kassettierte Holzdecke« – ein Ärgernis gewesen. Früher, als mir noch daran gelegen war, die Beschaffenheit der Oberflächen – Holz, Stein – sorgsam zu dokumentieren, sichtbar zu machen, meinen Fingern, die ich später über die auf dem Tisch ausgebreiteten Abzüge führte, die Illusion einer Struktur zu verschaffen; der Mutter zeigte ich die Abzüge und führte dabei meine Fingerkuppen über vermeintliche Risse im Holz oder Rillen im Stein, die ich als Narben wahrnahm oder als Lebenslinien, jedenfalls als etwas, das Merkmal eines Alters oder gelebten Lebens war und mir somit als Nachweis einer Wahrhaftigkeit diente, mit der ich vor der Mutter die Legende eines Heiligen oder die aus Inschriften zusammengereimte Biografie eines Stifters aufsagte und versuchte, aus deren religiöser Ekstase die ästhetische Ekstase meiner Nacherzählung zu machen, immer wieder mit Fingern und Augen die Anhaltspunkte suchend, die von der Fotografie hervorgerufene Erinnerung an ein tatsächliches Aufeinandertreffen: der heftige und doch kaum merkliche Sprung, den das Herz macht, wenn die Fingerkuppe einen Riss im Holz oder eine Rille im Stein entdeckt, und das damit verbundene jähe Bewusstsein, ein fremdes Werk zu berühren, das für die Ewigkeit bestimmt und dem Zerfall überantwortet ist.

Heute: knipse ich. Unsinnig, Keltermann oder Magdeleine davon zu berichten.

Unsinnig auch, der Kusine davon zu berichten. Der Mutter gehe es schlecht – eine solche Aussage, antworte ich ihr am Abend, sei wertlos, sei auch den Atem nicht wert, den es koste, sie zu treffen; eine solche Aussage, der Mutter gehe es schlecht, sage nämlich überhaupt nichts aus, weil sie keinen Kontext festlege, und weil sie keinen Kontext festlege, hänge sie zwangsläufig in der Luft oder anders: im Äther, verbessere ich mich, sie hänge im Äther, in den sie von ihr, der Kusine, hineingesprochen worden sei, und es sei nicht möglich, aus ihr, der Aussage, einen wertvollen Gedanken oder gar einen Entschluss zu ziehen; der Mutter gehe es immer schlechter, verbessere ich die Kusine, das sei eine Aussage, mit der etwas anzufangen sei, weil sie einen Kontext festlege, einen Kontext aus Tagen oder Wochen oder Monaten, die möglicherweise noch verblieben – dass sie, die Kusine, mir aber ausrichten müsse, der Mutter gehe es schlecht und sie frage nach mir, das zeige mir doch nur: die Mutter selbst denke noch gar nicht an eine verbleibende Zeit – denn, fahre ich fort, wäre in meiner Mutter ein Gedanke entstanden, der etwa besagte, es gehe zu Ende mit ihr, dann würde sie nicht nach mir fragen, sondern nach dem Pfarrer oder dem Notar, die ihr in diesem Fall sehr viel nützlicher wären; die Mutter, sage ich der Kusine, habe immer nur nach mir gefragt, wenn ich ihr hätte nützlich sein können, ich sei im Grunde erst interessant für sie geworden, als sie mich habe nutzen können – nutzen, wiederhole ich der Kusine, ich wolle nicht: ausnutzen sagen –, als sie mich habe nutzen können als Zuhörer und Chronist ihrer sogenannten Lebensgeschichte, und auch jetzt, sage ich der Kusine und lege auf, interessiere die Mutter an mir lediglich die Tatsache, dass ich nicht anwesend sei.

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