Notizen (52)

Hier unten? Hier unten ändert sich nichts.
Hier unten sitzen sie immer noch: mit ihren geröteten Gesichtern – von der Landluft –, mit ihren schlechten – vom Rauchen – und ihren guten Zähnen – von der Versicherung –, mit ihren geschwollenen Ringfingern – vom Heiraten – am Stubentisch und stellen immer noch: ihre Bierflasche, sie sind auf dem Sprung, auf der abwaschbaren Tischdecke ab, ihre Piccoloflasche Sekt, die sie vor ein paar Wochen selbst vorbeigebracht hatten, als sie auf dem Sprung gewesen waren, die seitdem in der Geschenktüte mit der roten Kordel gestanden hatte. Bei Bier oder Sekt oder – zu besonderen Anlässen, wenn sie etwa zum Geburtstag auf einen Sprung vorbeigekommen sind – bei einem Schnaps schimpfen sie: auf die Zigeuner in der Verwandtschaft, auf die Zigeuner in den Arztpraxen, in einer Tour schimpfen sie: auf die Zigeuner in der Regierung und die Zigeuner aus dem Osten, die neue Zigeuner sind, weil es einen neuen Osten gibt, sie schimpfen: auf die Zigeuner im Zigeunerviertel und auf die falschen Schlangen im Pfarrgemeinderat und im Elternbeirat.
Man setzt Kinder in eine Welt, deren Muttersprache aus einem endlosen Zigeunerwortschatz besteht, die über jedem ungeborenen Kindskopf bereits einen Dachstuhl oder einen Verschlag aus Heimlichtuereien und Verleumdungen, aus Beschimpfungen und Verwünschungen gezimmert hat, in einer Sprache, in der man sogar Kinder zu Kindern von Zigeunern machen kann, sich sagen kann: was soll aus denen schon werden, bei diesem Vater, dieser Mutter, diesem Mensch, diesem Saumensch…? – oder: hoffentlich kommt es zu den Großeltern, hoffen wir das Beste – oder: ist es zu spät, es noch wegzumachen?

Beim Schreiben versuche ich, mir die Zahl – eine Zahl, sage ich mir, kann man sich einprägen, wo es keine Namen gibt – der weggemachten oder nicht nase-, sondern gerüchteweisen Kinder ins Gedächtnis zu rufen, die ich durchs Erzählen, auf Nachfragen, vom Hörensagen in ihrer halbherzigen Menschwerdung kennengelernt habe, und mir fällt auf, dass ich selbst noch in meiner armseligen Dorfsprache gefangen bin, die mir das Wort aus dem Mund nehmen oder mich mundtot machen will, und dass ich für diese Kinder keine Geschichte erfinden kann, die sie nicht im Abort enden lässt oder als bauchnabelzeichnendes Stigma der werdenden und nie gewordenen Mütter, der Frauen, die immer Töchter bleiben, die schweigend mit ihren weggemachten und zum Gesprächsthema gewordenen Kindern schwanger gehen, sie durchs Dorf tragen und in die Obhut des Dorftratsches geben, in der dürftigen Nachbarschaft der immergleichen Vorhaltungen und Geschichten aufwachsen lassen, als ungebetener und stummer Tischgast bei Kaffee und Mutterkuchen.

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