Tagebuch (13)

Der dritte Tag beginnt noch vor dem Morgengrauen.
Ich sitze an einem Schreibtisch, der nicht meiner ist, und spüre Magdeleine und Keltermann in meinem Rücken schlafen, und mit jeder Minute tropfen Gedanken in einer angenehmen und zugleich besorgniserregenden Langsamkeit in die Quadrate des Rasters, das unsere Pläne, die meine sind, bereits über den anbrechenden Tag gelegt haben. Mein Blick hängt den fallenden Gedanken nach, beobachtet, wie sie wahllos mal hier, mal dort in den freien Flächen landen – und weiß doch, dass es damit ein Ende haben wird, sobald das letzte Quadrat gefüllt sein, sobald es gelten wird, in der gebotenen Hektik aufzubrechen.

Möglicherweise hatte eine ähnliche Gewissheit die Mutter veranlasst, mir mein Versprechen abzunehmen, das nicht weniger enthielt, als dass ich ihr Leben aufschreiben würde. Ich, der ich bis dahin zwar geschrieben, nie aber aufgeschrieben hatte, weder mich selbst noch sonst jemanden aufgeschrieben hatte, musste ihr am Krankenbett versprechen, ihr Leben aufzuschreiben, wie sie es ausdrückte – und es war klar, dass sie mit ihrem »Mein Leben« dasjenige meinte, das sie sich und allen anderen, vor allem aber mir bislang vorenthalten hatte, dasjenige, das vor der Aussiedlung und somit vor meiner Geburt liegt, den beiden Punkten – die Aussiedlung, meine Geburt –, die das Ende ihres Lebens, zumindest ihres erzählens- und aufschreibenswerten Lebens markieren, weil es von da an nichts mehr von Wert gibt, nichts mehr zu erzählen oder aufzuschreiben gibt, weil die Chronistenpflicht dort endet, wo die Fotografien meiner Kindheit und meines Geburtsortes die weißen Seiten im Album ablösen. Fotografien kümmert es nicht, ob das, was sie dokumentieren, inhaltsleer oder bedeutsam ist.

Bei der Mutter, lasse ich einen tröstenden und verräterischen Gedankentropfen fallen, ist noch nicht von Minuten zu sprechen, die das Raster dessen vorgeben, was noch zu tun ist. Vielleicht von Jahren, von Monaten. Vielleicht von Wochen, sage ich mir, nicht aber von Tagen, auch nicht von den Tagen, die ich mir von der Mutter gestohlen habe, die ich mir angeeignet und mit den Requisiten meiner sinnlosen Recherche gefüllt habe: den Fotoapparat, das Notizbuch habe ich in die Tasche gepackt, den Stift und die Broschüren von Kapellen, Kirchen, Sehenswürdigkeiten, habe ich in die Tasche und die Tasche in den Kofferraum gepackt, habe den Kofferraum geschlossen und Magdeleine und Keltermann ins Auto gepackt und angepackt habe ich nichts außer dem Lenkrad und dem Schalthebel, denn Sinn und Zweck dieser Fahrt, sage ich mir wieder, war es, nichts anzupacken, mich davor zu drücken, etwas anpacken zu müssen, mich davonzustehlen vor meinem Versprechen und der Erkenntnis, dass ich es nicht werde einlösen können.

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