Notizen (47)

Was vor meiner Geburt liegt, lasse ich mir erzählen – nicht aus Interesse, sondern weil es mir ermöglicht, nicht dabei zu sein, nicht teilnehmen und eine Rolle spielen zu müssen, die ich ohnehin nicht ausfüllen könnte.

Die Straße vor dem Haus ist nur wenig befahren. Einmal dringt das Geräusch von Pferdehufen – dorfauswärts liegt eine Reitschule – durchs gekippte Fenster und bildet den Taktgeber unseres kurzzeitigen Schweigens, vom Aufnahmegerät dokumentiert. Später kommuniziert es in unverständlichem Morsecode mit dem Anschlag der Schreibmaschine, die druckreife Buchstaben aufs Papier hämmert.

Ein Kugelschreiber handschreibt, zieht feine, silbrige Linien, wie sie Kufen im Eis hinterlassen. Eine Schreibfeder biegt ihren steifen Rücken, eine Bleistiftmine reibt sich auf. Eine Nadel sticht es unter die Haut, ein Messer ritzt es ins Brot*…

In den Häusern, höre ich ihn sagen, hätte sich der Feind eingerichtet, je nach Wohnfläche ein oder zwei Mann pro Haus. Sie hätten dort gesessen und mit selbstgedrehten Zigaretten zwischen ihren Fingern silbrige, nervöse Linien in die Luft gestikuliert. Manche unrasiert, das Gesicht von einem grauschwarzen Schnurrbart entmenscht. Tabak auf der Zungenspitze, Korken im Mund; mit schiefen Zähnen entkorkte Weinflaschen, wo man welche fand. Brotkrusten, trockenes Weißbrot, in die Milch eingebrockt. Milch und Käse von den beschlagnahmten Kühen des Molkereibetriebs. Die schweren Beine über die Armlehnen der eingestaubten und abgeklopften, der aus den Häusern, den leerstehenden, den geräumten, aus den Wohnstuben geräumten und zusammengetragenen, geschleppten Sitzmöbel geschlagen. Schulterklopfen auf die staubige Uniform.

Das Schlagen der Pferdehufe verklingt. Übrig bleibt das Hintergrundauschen der Aufnahme.

Zuvor habe tage- und wochenlang kalter Rauch über den Feldern gestanden. Einmal das Sirenengeheul aus Richtung der Granitolwerke, das den Volkssturm habe wecken sollen. Hinter den fliehenden Soldaten habe die Hitlerjugend ein paar Brücken gesprengt; das sei der Übermut und blinde Eifer der Jugend gewesen. Die Brücke bei den Granitolwerken sei gesprengt worden, eine steinerne beim Christbäcker und eine bei der Bergmühle. Tiefflieger seien wie Zugvögel die Eisenbahngleise abgeflogen. Schwarze Rauchsäulen hätten sich der Stadt genähert. Es sei eine Zeit glühender Lichter gewesen, in der der Horizont gewetterleuchtet habe. Wer nicht vor dem Unwetter geflohen sei, habe sich in den Häusern versteckt, habe versteckte Vorräte an Zucker und Fett angelegt. Fleisch habe es nur noch aus Notschlachtungen gegeben. Die leeren Augenhöhlen im Straßengraben liegender Rinder seien kleine Tümpel voll Regenwasser gewesen. Auch davon sei nicht zu erzählen. So früh im Jahr habe es noch keine Bienen gegeben, aber in den Kadavern habe man Honig gefunden. Man habe sich beholfen.
Man habe gewusst: man werde Freiwild sein. Zunächst habe sich die Sprache geändert. Aufschriften in deutscher Sprache seien entfernt oder übermalt, Straßen seien umbenannt worden. Der Kreuzberg sei zur Stalinhöhe geworden. Die versteckten Vorräte seien bald zur Neige gegangen. Man habe jeden Bissen bis zum Erbrechen gekaut und den letzten Tropfen Milch aus den verbliebenen Kühen gepresst. Manchmal hätten die Kinder, seltener die Erwachsenen, etwas Brot oder sonstige Lebensmittel vom Feind bekommen, der sich im Haus einquartiert habe. Der Feind, müsse man zu seiner Ehre sagen, sei nicht immer ein Unmensch gewesen. Im Gasthof Adler, am Ringplatz, sei eine Meldestelle für den Arbeitsdienst eingerichtet worden. Wer eine Arbeitstätigkeit nachweisen konnte, habe eine karge Ration Brot bekommen. An Fronleichnam habe man sie Altäre aufstellen lassen und Birkenschmuck vom Kreuzberg holen, auf dem bereits das Stalindenkmal gestanden habe. Man habe ihnen Beil und Säge in die Hand gedrückt.
Mit einem Rest Honig habe man den Apostel wundergeheilt, die hölzernen Finger wieder an die Hand geklebt, die beim Sturz die Speichertreppe hinunter abgebrochen seien. Heiligenfiguren, Kerzenhalter, das Messbesteck, alles sei aus der Dachkammer geräumt worden, wo man es zuvor eilig verstaut habe, als die rückziehenden Soldaten durch die Stadt gekommen seien, den Feind an den Fersen. Jetzt sei doch alles eingesammelt worden. Die Anweisung dazu habe der neue Pastor gegeben, ein deutsch sprechender Tscheche, der später am Tag vor Wut auf den improvisierten Altar gesprungen sei und in fremden Zungen geschimpft habe wie der Leibhaftige selbst; mit dem Fuß habe er aufgestampft, als wollte er die Erde spalten, da sei der Stein ins Rutschen, der Pastor sei ins Rutschen gekommen.

»Geduckt, den Bauch auf dem Erdboden, robben die Rinder auf die Stadt zu, ihre Schädel knapp über der Grasnarbe haltend. Stiefel treten in schlammige Pfützen, ein Bein verheddert sich im Stacheldraht«, lese ich mit Seitenblick in mein Notizbuch, während das Band weiterläuft.

Notschlachten müssen habe man eins der beiden Pferde, die den Munitionstransport gezogen hätten, der auf freiem Feld, unterhalb des Lausbergs in die Luft geflogen sei. Es sei der Nachlässigkeit beim Abladen geschuldet gewesen, obwohl die Russen später von Sabotage gesprochen hätten. Auf dem Aasplatz habe man die Munitionskisten abgeladen, die Granaten, Panzerfäuste – da müsse es passiert sein. Vorstellen müsse ich mir: die Luft, zur Faust geballt, die ihm die Jacke vom Leib gerissen habe. Die ohrenbetäubende Stille. Der Rauchpilz, bis zur besetzten Zündholzfabrik hin sichtbar. Nicht mehr zu erinnern die russischen Soldaten, wild gestikulierend, die tschechischen Partisanen. Zu Boden regnende Patronenhülsen und Granatsplitter.
Am Nachmittag habe man die zum Arbeitsdienst Abkommandierten zum Aasplatz, der schon vorher Aasplatz geheißen habe, geschickt, um das Massengrab auszuheben: zuunterst das tote Pferd, darüber die sechs Landsleute. Die Leichname der Russen und Tschechen seien überführt worden.
Jahre später habe er es aufgeschrieben, er habe das Massengrab besucht und die Namen aufgeschrieben. Er habe dem Pfarrer die Namen gemeldet, damit er sie in die Sterbematrik übertragen möge. Handschriftlich habe er notiert, er habe als einzig Überlebender zwei geplatzte Trommelfelle und einen Lidkrampf auf beiden Augen davongetragen. Das Versorgungsamt habe den Lidkrampf nicht als Kriegsleiden anerkennen wollen; vom Schreiben könne er mir eine Kopie anfertigen, sobald er es finde.
Draußen trabt ein Pferd die Straße entlang. Mit einem lauten Klappern, vom Aufnahmegerät dokumentiert, stellt er die Kaffeetasse auf dem Unterteller ab und schweigt. Statt zu fragen, wie gut und woher genau er die Mutter gekannt habe, schreibe ich leere Worte ins Notizbuch: »Schwef’lhelzle, Schwef’lhelzle muss mer han, dass mer alle Agenblick a Feuer machen kann.«

* Anspielend auf Rimbauds Les soldats coupent sur leur pain :
« C’est la vie ! »
– Jan Weidner

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