Das Kind, das ich in Händen hielt, trug ein weißes, am Saum mit Spitzen besetztes Hemdchen, seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht einer unsichtbaren, lediglich auf den hellen Lidern geahnten Sonne zugewandt. Für ein paar Minuten am Tag gehörte mir dieses Kind, ich konnte mit meinen Fingern über seine Finger streichen, über die nackten, vom Sonnenbrand erhitzten Ärmchen, an denen sich die Haut schälte. Vielleicht verwunderte mich diese sonnenbrandige Haut, die dennoch stets hell blieb, weiß, wann immer ich nach dem Kind sah, nachschaute, ob es noch da war, ob es schon gewachsen war, ob sein dunkler Haarschopf dichter geworden oder der Ausdruck seines schlafenden Gesichts älter geworden war, versuchte, es – was mir zuweilen erst nach minutenlanger Konzentration gelang – möglichst unverwandt anzusehen, bevor ich den Kasten wieder öffnete und die Fotografie zurücklegte, von der ich heute nur sagen kann, die Mutter habe sie mir einmal aus der Hand genommen und meinem fragenden Blick geantwortet: »Das bist du.«
Archiv für den Monat: Februar 2015
Tagebuch (10)
Als wenn es so einfach wäre: im Schneidersitz auf der Wiese sitzen, die Sonnenstrahlen, vom Spiegel des Badesees reflektiert, als Ahnung im Augenwinkel – und dann, den Blick gesenkt und mit den Händen im von Beinen und Schoß geformten Bermudadreieck arbeitend, im Reden die Fotografien entwickeln, die ich in der Kapelle gemacht habe, Magdeleine und Keltermann in diesem schon vergehenden, sich auflösenden Augenblick von ewigen Stifterfiguren und Schmerzensmännern zu erzählen, als wäre in diesen Fotografien – die noch lediglich Möglichkeit sind, die Wirklichkeit ins Gegenteil kehrend – etwas festgehalten, in der Art, in der man im Schreiben etwas festhält. Als befände sich in meiner Tasche etwas, das mehr Beständigkeit und somit mehr Wert besitze als die unruhigen Bewegungen, mit denen Keltermann vor Freude quietschende Grashalme aus der Wiese zupft und zwischen den Fingern zerdreht.
Auch Einsamkeit, denke ich mir, ist ein Gefühl, das man auskosten kann, in dem man sich selbst finden kann; man muss sie nur zulassen, die Einsamkeit, darf sie nicht überdecken mit einem schimmernden Film aus Worten, Gesten, dem verführerisch leichten Mienenspiel der Gesichtsmuskulatur, das ein Reden oder ein Lächeln bedingt.
Auf der Rückfahrt finden wir eine Gaststätte, in der Licht brennt, Keltermann und Magdeleine begutachten die Karte, ich lasse mir von der Wirtin den Telefonapparat zeigen.
Eine Fotografie zeigte eine Reihe zum Trocknen an Haken aufgehängter Schweinefüße und hing einige Zeit an der Wand, an die ich irgendwann meinen Schreibtisch gerückt hatte; ich sah sie beim Schreiben und beim Denken, in den Pausen, während derer die geduldige wie ausdauernde Schreibmaschine ihre stepptanzenden Typenhebel ausruhen und ich in die vermeintliche Leere starren durfte. Ich hatte den Schreibtisch an die Wand, gegen die ich von da ab anschrieb, geschoben und kurz darauf die Fotografie dort aufgehängt, damit sie mir etwas ins Bewusstsein rufen konnte, an das ich mich nicht mehr erinnere.
Nicht Gänse-, sondern Schweinefüße erinnern die Anführungszeichen, die ich ins Notizbuch eintrage, »Wir werden uns nicht mehr sehen«, hatte die Mutter gesagt, wie jedes Mal, wenn ich mich von ihr verabschiede; ich hatte im Umdrehen noch ihren Kopf ins blumengemusterte Kissen sinken sehen, bevor ich das Haus verlassen und mich ins Auto gesetzt hatte, um Magdeleine und Keltermann abzuholen.
Ich streiche den Satz und die Anführungszeichen wieder aus, lege den Füllfederhalter aus der Hand, in die ich den Telefonhörer wechsle und noch höre, wie die Kusine sagt, sie habe sich in der Stube der Mutter einen provisorischen Schlafplatz eingerichtet, hinzufügt, man könne ja nie wissen.
Notizen (31)
Kindergeschichten: Die Mutter habe dort einen Laib Brot gekauft, in den eine Maus eingebacken gewesen sei. In der Brotschneidemaschine habe die Mutter sie zur Hälfte in Scheiben geschnitten, bevor sie es gesehen und laut aufgeschrien habe.
Man erzählte sich außerdem von Ratten, die dort durch die Backstube laufen würden, davon, dass er einmal wöchentlich den Bruder und den Gesellen riefe und, einen Knüppel oder ein Eisenrohr in der Hand, auf Rattenjagd ginge.
Das Schild vor der Gastwirtschaft, »Warmer Fleischkäse«, seit Jahren unverändert. Woanders dürfen sie irgendwann nur noch Bier aus der Flasche anbieten.
Notizen (30)
Er lehnt an der maroden Mauer und sie geht in die Hocke, brunzt – leise kichernd – auf die Pflastersteine der Pfarrhausgasse. Gelbe Ginsterblüten. Ein Wurf Katzenjunge im Mauerwinkel verströmt den Geruch von nassem Fell. Die Tür des Falkenwirts öffnet Gelächter den Weg auf die Dorfstraße, Automotoren brummen wie eine späte Rinderherde. Schwere Männerhände klatschen auf Kühlerhauben, Hundegebell. Ein Hund zerrt an seiner Kette, schleift sie über die güllebesudelte Hofeinfahrt, die Birne einer Straßenlaterne zerplatzt, dann ist es still. Hinter dunklen Fenstern werden moralische Zeigefinger in die Schöße treuer Ehefrauen erhoben, die Fingerkuppenvorhaut mit einer weißen, in Essig aufgelösten Perle bekrönt.
Er fasst sich ein Herz, das ihm in die Hose rutscht, der warme Schauer einer Erektion durchläuft ihn, mit dem Handteller fängt er die Beule seines nach unten gezwungenen Ständers ein. Ein Lachen zerplatzt. Wie ein Stein drückt sich ein dunkler Fleck in den Stoff ihres pfirsichfarbenen Schlüpfers und wässert die Stickerei einer auf dem Schamhügel blühenden Rose.
Notizen (29)
Die Wolken hängen tief. Eine Pfütze legt dir den Himmel aus Watte zu Füßen.
Tagebuch (9)
Auch diese Fahrt kommt ans Ziel, ohne dass ich von ihr berichten kann: die nackten, dreckstarrenden Zehen entwurzelter Bäume am Hang, auf den Asphalt gekullerte Erdknollen, Achtung Steinschlag; schließlich die Ortschaft unter uns, ein Wildwuchs, wo sich die Landschaft faltet.
Das Auto stelle ich – es ist Ruhetag – auf dem Parkplatz einer Gastwirtschaft ab, trenne mich am Ortsschild von Magdeleine und Keltermann, wegweise sie in Richtung Badesee und hebe zum Zeichen des Abschieds meine Ledertasche, Notizbuch und Fotoapparat darin; Requisiten meiner Rolle, die ich also, denke ich mir, spielen werde, bis der Vorhang fällt. Stattdessen fällt mir später die Tasche von der Friedhofsmauer. Ich lese von Pesttoten, für die man den Friedhof erweitert habe, lese anderswo, der Schlüssel für die Friedhofskapelle könne im Wasch-Center abgeholt werden. »Fun Wash«, der Titel einer Kurzprosa von-wem-sonst Josef Winkler geht mir nicht aus dem Kopf, während ich, den Schlüssel mit dem grünen, handschriftlich mit »Kapelle« beschrifteten Schlüsselanhänger in der Faust, durch die Reihen der Grabsteine gehe und mich frage, ob irgendwo unter mir, nicht mehr voneinander unterscheidbar, wirklich Pestopfer liegen oder nur die regulären Toten, die, ohne es zu wissen, für einige Zeit der »lutherischen Sekte« angehörten und seit ein paar Jahrhunderten wieder katholisch sind, die armen Teufel, über deren Köpfe hinweg gelaufen und entschieden wird, die es nicht einmal zu Allerseelen schaffen, sich unter Protest aus ihren muffigen Gruben zu heben – schon wieder tropft Weihwasser durch die Decke, durch die undichte Stelle im Sargdeckel, längst hat der stete Tropfen die Stirn ausgehöhlt, ein ewiges Ärgernis – und am verschlossenen Tor des Gottesackers zu rütteln, bis man ihnen Gehör schenkt, ein abgekautes Ohr zum Fraß vorwirft, und schließlich, den von der Gemeinde bereitgestellten Filzstift in den knöchernen Händen, an der richtigen Stelle ihr Kreuz zu machen.
Im Halbdunkel des Kapellenraumes, in dem ich mich vor dem Ansturm der Toten verschanze, fotografiere ich – bitte Blitzlicht vermeiden – die Rötelzeichnungen an den Wänden, die Kanzel, die Reliefornamente, die Stifter- und Heiligenfiguren. Später kann ich den Film entwickeln lassen, um etwas Handfestes zu haben, mit dem ich Magdeleine und Keltermann gegenüber unseren Ausflug, der Mutter gegenüber meine Abwesenheit rechtfertigen kann. Der Karton mit den Fotografien, den Kruzifixen und Schmerzensmännern, den Grabsteinen und Grabinschriften, ein weiteres Requisit für den Schmierenkomödianten.
Auf dem Weg zum Badesee – ich wollte die Felder queren und mir den erneuten Gang durchs Dorf sparen – stoße ich an die künstliche Grenze der Schrebergarteneinzäunungen, und obwohl keine Menschenseele zu sehen ist, bleibt mir nichts anderes, als zur Straße zurückzukehren. Mit von Hitze geleertem Kopf komme ich am Schalter an, schiebe mich durch das Drehkreuz, die Ledertasche auf Schulterhöhe haltend, kann aus der Ferne Magdeleine und Keltermann auf der Liegewiese ausmachen und bleibe zögerlich vor den Umkleidekabinen stehen, das Leichtgewicht meiner Tasche schmerzlich bewusst am Arm, bevor ich sie auf dem Kiesweg abstelle, mir Schuhe und Socken von den müden Füßen streife und barfuß auf die Wiese trete.
Notizen (28)
Kein Cowboy und Indianer, kein Räuber und Gendarm, stattdessen: Krieg spielen. Er steht an der ramponierten Wellblechwand des Schuppens und zieht seinen unbehelmten Soldaten aus dem Hosenschlitz, uriniert in kurzen, nervösen Salven. Rostflecken wie frische Wunden. Gackern irre gewordener Hühner, Kindergeschrei.