Nein, er fürchte den Tod nicht, fürchte auch das Sterben nicht, er habe seinen Frieden gemacht, habe jetzt eine geregelte Ernährung und eine regelmäßige Verdauung, er esse jeden Abend ein Stück Tier und käue den Salatmix aus der Plastikpackung wieder.
Archiv für den Monat: Januar 2015
Notizen (18)
»Im Jahre 1913 schlug der Blitz in die Mühle. Er hat einen Flügel und ein Mittelstück zerspalten. Der eiserne Wellkopf hat den Blitz angezogen, ist dann durch 2 Paar Steine gegangen, durch den Steinschöler, hat mit [sic] die Stiftentrommel zerrissen und von da ist er auf einen geschmiedeten Nagel gekommen und hat am Ständer unten beim Kreuz noch ein Stückchen Holz herausgerissen, bevor er in die Erde gefahren ist.« *
Irgendwann werde ich ans »Bärner Ländchen« schreiben müssen, an die Zeitschrift der anno 1946 aus Bärn und Großwöitersdorf (lies: Großwaltersdorf) Ausgesiedelten, die dann meine ungelenken Sätze auf ihr chlorfrei gebleichtes Billigpapier drucken muss, die Fotografie, die das Elternhaus der Mutter zeigt. »Neben dem Haus standen zwei Eschen, ein Birnbaum«, beginnt die Schilderung der Mutter, ich dagegen werde hartherzig bleiben und jedes Wort auf die Goldwaage legen, bevor ich es in die Tastatur der Schreibmaschine hacken werde, ich werde mir die ungelenken Sätze, die mir die Mutter aufs Diktiergerät gesprochen hat, auf der Zunge zergehen lassen, sie abschmecken, die allzu abgeschmackten Bilder – Stare im Eschengeäst, im Brunnenwasser gekühlte Milchkannen – werde ich mit einer Prise Bitterkeit salzen: »Vom Haus steht kein Stein mehr, auf den Feldern wachsen wilde Bäume.«
Ich werde dem Knistern und Knacken des Diktiergeräts lauschen, dem Rauschen der Aufnahme, das mich in die Stube zurückträgt:
Asthmatisch quält sich ein Traktor bergauf, Licht schlägt wie eine salzige Brandung ins Zimmer, in ihren Bilderrahmen hängen Brautpaare krumm und schief an der Stubenwand, darunter liegt die Mutter auf dem Scheslon, die Hände auf dem Bauch gefaltet, den Blick zur Decke geheftet diktiert sie ihre Kindheitserinnerungen, schöpft Brunnenwasser in Blechkannen oder findet kleine Krebse im Flussbett, presst plötzlich die Finger der linken Hand auf die Augen, gräbt die Finger der rechten Hand in den Stoff ihrer Schürze – den ersten Gatten habe »der Tschech« erschossen.
Das Diktiergerät wird das Band abspulen, ich werde Luft holen und nochmals ansetzen:
Hinter staubigen Glasscheiben sind Brautpaare ins ewige Glück gebannt, winzige Nadeln durchbohren ihre Brustkörbe und heften sie an den Tag der Trauung, darunter grinsen die im ehelichen Schoß geborenen Kinder milchzähnig ins Sonnenlicht und strecken der Kamera ihre Einschulungstüte entgegen, die Mutter steckt Geld in Briefumschläge, zur Einschulung, zur Erstkommunion, irgendwann zur Hochzeit … Die Luft wie Windmühlenflügel schlagend werfen die Arme des Erschossenen in den Ackerfurchen flackernde Schatten, aufprallt sein Körper wie vom Blitz getroffen; hinter einer Gruppe wildwachsender Bäume ragt die Gebissruine verwitterten Mauerwerks aus der Erde; Flusswasser, in dem man die nackten Füße kühlt, wäscht über einen glatten Krebsrücken und reißt das Tier samt Schale fort, mit einem platzenden Geräusch lösen sich patronenförmige Kieselsteine aus dem Flussbett und schnellen mit der Strömung davon, suchen die entblößte Brust. Aus seiner Schwarzweißfotografie stierend fragt sich der erschossene Gatte, ob Blicke töten können, der Fleischhauer Kummerer lässt den Hammer sinken und rückt sein Hitlerbärtchen zurecht, die Mutter wickelt meinen Brief ans »Bärner Ländchen« um einen Stein, mit der faustgroßen Wurfpost schlage ich auf die Scheiben der Hochzeitsbilder und breche das Eis, den Beinah-Vater, den ersten Gatten im Arm eingehakt, der war bei der SS und wusste von nichts, erscheine ich den Herausgebern des »Bärner Ländchens« im Schlaf, zwischen den gebleckten Zähnen ein herausgebissenes Stück Hakenkreuzholz, auf dem ich bis zum Ersticken kaue und würge, bevor ich heulend in die Erde fahre.
* aus: Johann Hoffmann, Groß-Waltersdorf – Aus der Geschichte des Schieferdorfes im Odergebirge, Verlag Adolf Gödel, Wolfratshausen 1965
– Jan Weidner
Notizen (17)
Seine Eltern? Der intimste Gedanke, den er je zu ihnen gefasst hatte, war gewesen: dass sie ihn beerben würden.
Tagebuch (6)
Im Grunde, sagt sie und nimmt den Faden wieder auf, der sich aus Keltermanns Erinnerung gelöst hat, im Grunde lasse sich das ganze Dorfdilemma auf einen Satz reduzieren, nämlich auf diese ans Kind gerichtete Frage, wem es denn gehöre. Diese Frage sei die einzige, die das Kind gestellt bekäme, weil sich nach der Antwort darauf, wem es gehöre, gehorche oder gar hörig sei, sein Wert bemessen lasse.
Keltermann, verstummt, blickt aus dem Fenster und befingert gedankenverloren seine Zehen. Essiggetränkte Wolken ziehen den Himmel entlang, fahles Licht fällt auf Keltermanns Brust, von den obersten Knöpfen des Hemdes freigegeben. Magdeleines Stimme verschwindet hinter dem Bild einer taufrischen, metallisch glänzenden Brustwarze aus dem »Fluss ohne Ufer«.
Später, Keltermann hat sich auf den Weg zum Supermarkt gemacht – »Rot oder weiß?«, gemeinsames Schulterzucken – brauche ich Magdeleine nicht einmal zu bitten oder darauf zu achten, dass sich in meine lange einstudierte Pose des Mentors, des gewissermaßen professionell interessierten Zuhörers nicht doch das kleinste Zucken einer Bitte, eines Bettelns mischt – bereitwillig streckt sie mir ihr Notizbuch hin, das Keltermann ihr vor einigen Wochen zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hat und das erst wenige Eintragungen aufweist, in dicht gesetzten Zeilen, die beim flüchtigen Lesen verschwimmen und sich ineinander schieben, weil ich meine Augen zu Schlitzen und mein Gesicht zu einer Grimasse verziehe, Zeilen, in denen ein toller Wind weht, ein Wind, der als toll empfunden wird, Fahrtwind, der durchs offene Zugfenster strömt, während sie ihren Kopf in des Einen Schoß legt und des Anderen Hand auf dem Rücken spürt, eine Erinnerung, die ich ihr zugestehen könnte oder nicht, es würde an ihrer Beständigkeit nichts mehr ändern.
Auf ihre Frage, wo Keltermann bleibe, erwidere ich: »Den hat der Fleischhauer Kummerer geholt.«
Überhaupt: Was es mit dem Fleischhauer Kummerer auf sich habe.
Ich sage, der Fleischhauer Kummerer sei nichts als eine Schwarzweißfotografie, aus der vier oder fünf akkurat gestutzte Hitlerbärtchen starrten, vier oder fünf Gesichter mit ernsten Mienen, eigens fürs Foto aufgesetzt, Gesichter, denen man das Hitlerbärtchen gar nicht erst mit Kugelschreiber aufzumalen brauche, sie trügen es bereits im Gesicht, hätten es schon immer im Gesicht getragen, es gestutzt und mit dem Rasiermesser freigelegt, wie es wohl schon die Väter getan hätten. Ich zitiere die handschriftliche Notiz auf der Rückseite der Fotografie: Der Fleischhauer Kummerer und Gesellen, sage, der Fleischhauer Kummerer sei nichts als eine dieser Fotografien, die mir die Mutter überlassen hatte, als sie noch hoffen durfte, ich würde einmal ihre Lebensgeschichte aufschreiben oder zumindest die Fotografie ihres Elternhauses ans »Bärner Ländchen« schicken, zusammen mit dem Text, den sie mir damals aufs Diktiergerät gesprochen hatte.
(»Hinter dem Geburtshaus der Eltern standen zwei Eschen, ein Birnbaum«, und so weiter… weiter wird’s gepfiffen, wie man bei uns sagt).
Kurz hoffe ich in diesem Augenblick, in Magdeleines Augenblick festgenagelt zu bleiben und erst wieder aus ihm entlassen zu werden, wenn ich ihre ungestellte Frage beantworte, ob ich aus diesem Grund beim Schreiben stets den Blick nach hinten richte und ob ich mit diesem Ausflug das Kind in mir aufspüren und zum Reden bringen wolle, weil ich fürchtete, zu verstummen – stattdessen wechselt sie mit einem Blick auf ihr Notizbuch, das ich immer noch in Händen halte, das Thema.
Notizen (16)
Im Herbst fault ein Eckzahn. Es hagelt kariöse Mostbirnen.
Notizen (15)
Die ordnungsliebende Hand fährt durch die trockenen Blütenblätter, raschelt; fegt Laub von der Steinplatte.
Küss mich wie der Herbst.
Notizen (14)
Flieder ist ein Name wie für eine Kinderkrankheit. Eine Kinderkrankheit ist ein Kinderspiel. Wie Flaschendrehen. Tat oder Wahrheit. Zurückziehen oder Händchenhalten. Springen oder Stehenbleiben.
Eine Bremsspur hinterlassend rutscht der Hl. Bertram von Nazaret, König vom Judenbuckel, Gott hab ihn selig (und zwar kreuzweise), auf seinem blanken Gesäß über den Schnee, quert den vereisten Feldweg und stürzt in den Dorfbach, wo ihm der Arsch auf Grundeis geht.
Springen oder Stehenbleiben.
Die glatte Sohle eines Kinderschuhs gleitet am moosbewachsenen Stein ab, seine Kinderseele springt von der Pfarrhausmauer auf den Gehsteig, aufschreckt ein Hund und schlägt seine Kette, durch die müde Luft pfeift der Gürtel des Bauern mit den milchglasigen Augen und den eingesunkenen Wangen, dessen hasenzähnige Tochter jede Nacht das Bett nässte, »Ab jetzt bist du allein, keiner wird dir mehr dein Bier aus dem Keller holen, ab jetzt kannst du dir einen neuen Neger suchen.« Wind rüttelt am Blechschild für Josera Tiernahrung, wie in einem Zeitraffer schieben sich die Wolken zu einem reißenden Fluss zusammen, die Stundenschläge der Kirchturmuhr mit sich tragend, den Herzschlag mit sich tragend, am Dorf rüttelnd und zerrend, an den Bauernhäusern, deren Fenstergitter rosten, deren Fensterkreuze faulen, deren Mauerwerk verwittert, durch deren ochsenblutrote Dielenböden Triebe brechen, wie Milchzähne durch Zahnfleisch brechen. Auf dem Grund des Freibads hinterm Gasthof Lamm geht der Totengräber von Tramin auf und ab, bemisst mit seinen Schritten das Fassungsvermögen der Grube und abzählreimt die Köpfe einer um Fassung bemühten Menge, in deren Mitte der Dorfpfarrer steht und einem im Taufbecken badenden Täufling mit zitternder Säuferhand Flüssigdünger übers Haupt gießt, schweigend, während das schreiende und sich windende Kind in Windeseile heranwächst, bis es schließlich das Taufbecken sprengt.
Notizen (13)
Harz tropft aus seinen Handflächen, aus der Stichwunde, ein runzliger Altweiberdaumen reibt mit traumwandlerischer Sicherheit Speichel über die blutroten Trauben, ein zahnloser Mund öffnet sich und verschlingt Kreuz samt Gekreuzigtem, in einem Stück, wie ein Reptil; ausspuckt den blauen Oranginaflaschenverschluss, wie man beim Kirschenessen Kirschkerne ausspuckt.
Hängt in der Schlafstube vom monströsen Rosenkranz und schluckt die Flüsterstimme der betenden Mutter. Sein letzter Hustenanfall hufschlagt im Takt des Aufziehweckers.
Tagebuch (5)
Mit Keltermann rede ich mir Gespräche auf Augenhöhe ein.
Barfuß auf der Fensterbank des Pensionszimmers sitzend, Kafka – das Mitbringsel – liegt mit steifem Rücken zu seinen Füßen, erzählt er von diesem Unmensch und meint damit ihren Vater, den Bauern mit dem verschatteten Gesicht und den trüben Augen, der auf einmal in der Türöffnung ihres Kinderzimmers gestanden habe. Mit seiner Statur den Türrahmen ausfüllend, habe der Vater das erste Mal das Wort an ihn gerichtet, die Frage, wem er, Keltermann, gehöre. Danach, sagt Keltermann, habe er ihre kindliche Angst vor diesem Mann geteilt. Ihm, dem Vater, habe diese Angst seiner Tochter unerträglich sein müssen, unverständlich ihr allgegenwärtiger Ekel; vor den Menschen, den Verwandten, sei die Tochter in ihr Zimmer geflüchtet, vor der lautstarken Sippschaft, vor dem Kinderbesuch, den Gleichaltrigen, den kleinen Verwandten. Vor dem Vater, wenn er laut wurde.
Auch der habe gesoffen und an die Häuserwände gebrunzt.
Später habe sie ihm erzählt, wie er gestorben sei. Die Stiege sei er hinaufgegangen, seine Sonntagshose anziehen, die ihm die Mutter aufs eben gemachte Bett gelegt habe. Der Bettvorleger habe seine schweren Schritte über ihren Köpfen geschluckt, dann habe es einen Schlag getan. Sie habe der Mutter in die Augen gesehen und sofort gewusst: Jetzt hat ihn der Blitz getroffen.
Ekel vor der Zudringlichkeit des Lebens. Vor den Gummistiefeln mit ihren Sohlen voll Tierkot, vor den sauberen Sonntagsschuhen. Vor den bleichen Tierschädeln an der Wand, den betenden Händen an der Wand, den Kreuzen an der Wand. Vor den blinden Fensterscheiben, durch die das Licht fällt wie sauer gewordene Milch. Vor den Aschenbechern, den Eltern, die ihr Geld in die Hand drücken und sie nach Zigaretten schicken. Vor der Großmutter, die vom Esstisch aufsteht, sagt: »Ich muss brunze.«
Ob ich wisse, was er meine. Ob ich überhaupt zuhöre.
»Ekel vor der Zudringlichkeit des Lebens« schreibe ich ins Notizbuch und streiche den Satz wieder aus.
In die dünne Decke eines traumlosen Schlafes bohrt sich das Telefonklingeln, das ich mir nur eingebildet habe.
Nachdem ich den Rasierpinsel unter einem dünnen Wasserstrahl ausgewaschen habe, froh, meinem Blick aus dem Badezimmerspiegel nicht mehr standhalten zu müssen, lausche ich dem ruhigen Atem der beiden Schlafenden. Die Mutter frage nach mir, hatte die Kusine bei unserem gestrigen Telefonat gesagt, hinzugefügt, sie wisse nicht, was sie ihr antworten solle. Die Wahrheit, hatte ich vorgeschlagen und war zusammengezuckt, als die Kusine lauthals losgelacht hatte; dass ich mit zwei Minderjährigen in Urlaub gefahren sei? Keltermann, hätte ich erwidern können, sei schon seit Wochen volljährig, ich hätte mich während der Autofahrt nach Konstanz mit ihm abwechseln können, hätte ihm das Steuer und Magdeleine den Beifahrersitz überlassen können oder mir, auf dem Beifahrersitz sitzend, Gespräche auf Augenhöhe einreden können.