Tagebuch (5)

Mit Keltermann rede ich mir Gespräche auf Augenhöhe ein.
Barfuß auf der Fensterbank des Pensionszimmers sitzend, Kafka – das Mitbringsel – liegt mit steifem Rücken zu seinen Füßen, erzählt er von diesem Unmensch und meint damit ihren Vater, den Bauern mit dem verschatteten Gesicht und den trüben Augen, der auf einmal in der Türöffnung ihres Kinderzimmers gestanden habe. Mit seiner Statur den Türrahmen ausfüllend, habe der Vater das erste Mal das Wort an ihn gerichtet, die Frage, wem er, Keltermann, gehöre. Danach, sagt Keltermann, habe er ihre kindliche Angst vor diesem Mann geteilt. Ihm, dem Vater, habe diese Angst seiner Tochter unerträglich sein müssen, unverständlich ihr allgegenwärtiger Ekel; vor den Menschen, den Verwandten, sei die Tochter in ihr Zimmer geflüchtet, vor der lautstarken Sippschaft, vor dem Kinderbesuch, den Gleichaltrigen, den kleinen Verwandten. Vor dem Vater, wenn er laut wurde.
Auch der habe gesoffen und an die Häuserwände gebrunzt.
Später habe sie ihm erzählt, wie er gestorben sei. Die Stiege sei er hinaufgegangen, seine Sonntagshose anziehen, die ihm die Mutter aufs eben gemachte Bett gelegt habe. Der Bettvorleger habe seine schweren Schritte über ihren Köpfen geschluckt, dann habe es einen Schlag getan. Sie habe der Mutter in die Augen gesehen und sofort gewusst: Jetzt hat ihn der Blitz getroffen.

Ekel vor der Zudringlichkeit des Lebens. Vor den Gummistiefeln mit ihren Sohlen voll Tierkot, vor den sauberen Sonntagsschuhen. Vor den bleichen Tierschädeln an der Wand, den betenden Händen an der Wand, den Kreuzen an der Wand. Vor den blinden Fensterscheiben, durch die das Licht fällt wie sauer gewordene Milch. Vor den Aschenbechern, den Eltern, die ihr Geld in die Hand drücken und sie nach Zigaretten schicken. Vor der Großmutter, die vom Esstisch aufsteht, sagt: »Ich muss brunze.«

Ob ich wisse, was er meine. Ob ich überhaupt zuhöre.
»Ekel vor der Zudringlichkeit des Lebens« schreibe ich ins Notizbuch und streiche den Satz wieder aus.

In die dünne Decke eines traumlosen Schlafes bohrt sich das Telefonklingeln, das ich mir nur eingebildet habe.
Nachdem ich den Rasierpinsel unter einem dünnen Wasserstrahl ausgewaschen habe, froh, meinem Blick aus dem Badezimmerspiegel nicht mehr standhalten zu müssen, lausche ich dem ruhigen Atem der beiden Schlafenden. Die Mutter frage nach mir, hatte die Kusine bei unserem gestrigen Telefonat gesagt, hinzugefügt, sie wisse nicht, was sie ihr antworten solle. Die Wahrheit, hatte ich vorgeschlagen und war zusammengezuckt, als die Kusine lauthals losgelacht hatte; dass ich mit zwei Minderjährigen in Urlaub gefahren sei? Keltermann, hätte ich erwidern können, sei schon seit Wochen volljährig, ich hätte mich während der Autofahrt nach Konstanz mit ihm abwechseln können, hätte ihm das Steuer und Magdeleine den Beifahrersitz überlassen können oder mir, auf dem Beifahrersitz sitzend, Gespräche auf Augenhöhe einreden können.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert