Tagebuch (6)

Im Grunde, sagt sie und nimmt den Faden wieder auf, der sich aus Keltermanns Erinnerung gelöst hat, im Grunde lasse sich das ganze Dorfdilemma auf einen Satz reduzieren, nämlich auf diese ans Kind gerichtete Frage, wem es denn gehöre. Diese Frage sei die einzige, die das Kind gestellt bekäme, weil sich nach der Antwort darauf, wem es gehöre, gehorche oder gar hörig sei, sein Wert bemessen lasse.
Keltermann, verstummt, blickt aus dem Fenster und befingert gedankenverloren seine Zehen. Essiggetränkte Wolken ziehen den Himmel entlang, fahles Licht fällt auf Keltermanns Brust, von den obersten Knöpfen des Hemdes freigegeben. Magdeleines Stimme verschwindet hinter dem Bild einer taufrischen, metallisch glänzenden Brustwarze aus dem »Fluss ohne Ufer«.

Später, Keltermann hat sich auf den Weg zum Supermarkt gemacht – »Rot oder weiß?«, gemeinsames Schulterzucken – brauche ich Magdeleine nicht einmal zu bitten oder darauf zu achten, dass sich in meine lange einstudierte Pose des Mentors, des gewissermaßen professionell interessierten Zuhörers nicht doch das kleinste Zucken einer Bitte, eines Bettelns mischt – bereitwillig streckt sie mir ihr Notizbuch hin, das Keltermann ihr vor einigen Wochen zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hat und das erst wenige Eintragungen aufweist, in dicht gesetzten Zeilen, die beim flüchtigen Lesen verschwimmen und sich ineinander schieben, weil ich meine Augen zu Schlitzen und mein Gesicht zu einer Grimasse verziehe, Zeilen, in denen ein toller Wind weht, ein Wind, der als toll empfunden wird, Fahrtwind, der durchs offene Zugfenster strömt, während sie ihren Kopf in des Einen Schoß legt und des Anderen Hand auf dem Rücken spürt, eine Erinnerung, die ich ihr zugestehen könnte oder nicht, es würde an ihrer Beständigkeit nichts mehr ändern.
Auf ihre Frage, wo Keltermann bleibe, erwidere ich: »Den hat der Fleischhauer Kummerer geholt.«

Überhaupt: Was es mit dem Fleischhauer Kummerer auf sich habe.
Ich sage, der Fleischhauer Kummerer sei nichts als eine Schwarzweißfotografie, aus der vier oder fünf akkurat gestutzte Hitlerbärtchen starrten, vier oder fünf Gesichter mit ernsten Mienen, eigens fürs Foto aufgesetzt, Gesichter, denen man das Hitlerbärtchen gar nicht erst mit Kugelschreiber aufzumalen brauche, sie trügen es bereits im Gesicht, hätten es schon immer im Gesicht getragen, es gestutzt und mit dem Rasiermesser freigelegt, wie es wohl schon die Väter getan hätten. Ich zitiere die handschriftliche Notiz auf der Rückseite der Fotografie: Der Fleischhauer Kummerer und Gesellen, sage, der Fleischhauer Kummerer sei nichts als eine dieser Fotografien, die mir die Mutter überlassen hatte, als sie noch hoffen durfte, ich würde einmal ihre Lebensgeschichte aufschreiben oder zumindest die Fotografie ihres Elternhauses ans »Bärner Ländchen« schicken, zusammen mit dem Text, den sie mir damals aufs Diktiergerät gesprochen hatte.
(»Hinter dem Geburtshaus der Eltern standen zwei Eschen, ein Birnbaum«, und so weiter… weiter wird’s gepfiffen, wie man bei uns sagt).

Kurz hoffe ich in diesem Augenblick, in Magdeleines Augenblick festgenagelt zu bleiben und erst wieder aus ihm entlassen zu werden, wenn ich ihre ungestellte Frage beantworte, ob ich aus diesem Grund beim Schreiben stets den Blick nach hinten richte und ob ich mit diesem Ausflug das Kind in mir aufspüren und zum Reden bringen wolle, weil ich fürchtete, zu verstummen – stattdessen wechselt sie mit einem Blick auf ihr Notizbuch, das ich immer noch in Händen halte, das Thema.

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