Notizen (18)

»Im Jahre 1913 schlug der Blitz in die Mühle. Er hat einen Flügel und ein Mittelstück zerspalten. Der eiserne Wellkopf hat den Blitz angezogen, ist dann durch 2 Paar Steine gegangen, durch den Steinschöler, hat mit [sic] die Stiftentrommel zerrissen und von da ist er auf einen geschmiedeten Nagel gekommen und hat am Ständer unten beim Kreuz noch ein Stückchen Holz herausgerissen, bevor er in die Erde gefahren ist.« *

Irgendwann werde ich ans »Bärner Ländchen« schreiben müssen, an die Zeitschrift der anno 1946 aus Bärn und Großwöitersdorf (lies: Großwaltersdorf) Ausgesiedelten, die dann meine ungelenken Sätze auf ihr chlorfrei gebleichtes Billigpapier drucken muss, die Fotografie, die das Elternhaus der Mutter zeigt. »Neben dem Haus standen zwei Eschen, ein Birnbaum«, beginnt die Schilderung der Mutter, ich dagegen werde hartherzig bleiben und jedes Wort auf die Goldwaage legen, bevor ich es in die Tastatur der Schreibmaschine hacken werde, ich werde mir die ungelenken Sätze, die mir die Mutter aufs Diktiergerät gesprochen hat, auf der Zunge zergehen lassen, sie abschmecken, die allzu abgeschmackten Bilder – Stare im Eschengeäst, im Brunnenwasser gekühlte Milchkannen – werde ich mit einer Prise Bitterkeit salzen: »Vom Haus steht kein Stein mehr, auf den Feldern wachsen wilde Bäume.«

Ich werde dem Knistern und Knacken des Diktiergeräts lauschen, dem Rauschen der Aufnahme, das mich in die Stube zurückträgt:
Asthmatisch quält sich ein Traktor bergauf, Licht schlägt wie eine salzige Brandung ins Zimmer, in ihren Bilderrahmen hängen Brautpaare krumm und schief an der Stubenwand, darunter liegt die Mutter auf dem Scheslon, die Hände auf dem Bauch gefaltet, den Blick zur Decke geheftet diktiert sie ihre Kindheitserinnerungen, schöpft Brunnenwasser in Blechkannen oder findet kleine Krebse im Flussbett, presst plötzlich die Finger der linken Hand auf die Augen, gräbt die Finger der rechten Hand in den Stoff ihrer Schürze – den ersten Gatten habe »der Tschech« erschossen.

Das Diktiergerät wird das Band abspulen, ich werde Luft holen und nochmals ansetzen:
Hinter staubigen Glasscheiben sind Brautpaare ins ewige Glück gebannt, winzige Nadeln durchbohren ihre Brustkörbe und heften sie an den Tag der Trauung, darunter grinsen die im ehelichen Schoß geborenen Kinder milchzähnig ins Sonnenlicht und strecken der Kamera ihre Einschulungstüte entgegen, die Mutter steckt Geld in Briefumschläge, zur Einschulung, zur Erstkommunion, irgendwann zur Hochzeit … Die Luft wie Windmühlenflügel schlagend werfen die Arme des Erschossenen in den Ackerfurchen flackernde Schatten, aufprallt sein Körper wie vom Blitz getroffen; hinter einer Gruppe wildwachsender Bäume ragt die Gebissruine verwitterten Mauerwerks aus der Erde; Flusswasser, in dem man die nackten Füße kühlt, wäscht über einen glatten Krebsrücken und reißt das Tier samt Schale fort, mit einem platzenden Geräusch lösen sich patronenförmige Kieselsteine aus dem Flussbett und schnellen mit der Strömung davon, suchen die entblößte Brust. Aus seiner Schwarzweißfotografie stierend fragt sich der erschossene Gatte, ob Blicke töten können, der Fleischhauer Kummerer lässt den Hammer sinken und rückt sein Hitlerbärtchen zurecht, die Mutter wickelt meinen Brief ans »Bärner Ländchen« um einen Stein, mit der faustgroßen Wurfpost schlage ich auf die Scheiben der Hochzeitsbilder und breche das Eis, den Beinah-Vater, den ersten Gatten im Arm eingehakt, der war bei der SS und wusste von nichts, erscheine ich den Herausgebern des »Bärner Ländchens« im Schlaf, zwischen den gebleckten Zähnen ein herausgebissenes Stück Hakenkreuzholz, auf dem ich bis zum Ersticken kaue und würge, bevor ich heulend in die Erde fahre.

* aus: Johann Hoffmann, Groß-Waltersdorf – Aus der Geschichte des Schieferdorfes im Odergebirge, Verlag Adolf Gödel, Wolfratshausen 1965
– Jan Weidner

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