Tagebuch (7)

Irgendwann, sagt sie, als ich ihr das Notizbuch zurückgebe und mir jedes weitere Wort verkneife, habe sie vor der Wahl gestanden, sich selbst oder dem Wort Schön zu misstrauen. Jedes Mal, wenn ihr ein solches Schön mitgegeben worden sei, es das Zurückgeben eines auf kleinkariertes Papier notierten Gedichtes oder eines Notizbuchs begleitet habe – schließlich nicht mehr zu unterscheiden gewesen sei, ob sie oder ihre Sätze gemeint seien – sei das Wort Schön ein Stück weit entwertet worden, sei unzuverlässig geworden, habe ihr Misstrauen geweckt.
Es gehöre zum Charakter der Dörfler, um Worte verlegen zu sein, sie stiefmütterlich zu behandeln, und deshalb seien sie bemüht, alles möglichst auf einen Satz, ein Wort zu reduzieren, selbst in ihrem endlosen Tratsch immer nur die gleichen Sätze und Wörter verwenden zu müssen – und dabei merkten sie nicht, wie sie den Menschen selbst auf einen Satz, ein Wort reduzierten, ihn in die Enge eines Satzes oder eines Wortes zwängten, denn selbst für ein Kind sei die Frage, wem es gehöre, schon zu klein, zu eng, und das Wort Schön, das aus einer falsch verstandenen Höflichkeit oder Bewunderung oder verliebten oder pubertären Regung das Aus- und Vorbeilesen ihrer Gedichte und Notizen begleite, komme ihr aus diesem Grund immer mehr wie ein Abtun, ein Abwerten vor.

Eine Woche lang war ihre Mutter nach der Trauerfeier noch verschleiert durchs Dorf gegangen, hatte sich mindestens einmal täglich auf den Weg zum Gottesacker gemacht, hatte ihr geselliges Wesen hinter einer Maske aus Schweigen versteckt, die sie nicht ohne einen gewissen Stolz, den das Wissen um das eigene Auserwähltsein – und sei es das Auserwähltsein zur Trauer – mit sich bringt. Ihre Stimme hatte sie für eine Woche eingetauscht gegen einen Platz im Chor der alten Weiber, die von früh bis spät in wechselnder Besetzung in den hinteren Kirchenbänken hocken und den Rosenkranz herunterleiern. Für eine Woche hatte sich Magdeleines Mutter in dieses heisere Raunen der krückstöckig und krummrückig, faltenröckig in den Kirchenbänken sitzenden Weiber gemischt, das mir stets als Schauer den Rücken herunterläuft und mich sprachlos, mit letztem Atem gegen die Sprache ankämpfend, zurücklässt. Für eine Woche hatte sie ihre Sprache gebenedeit, in der man ansonsten jeden wahlweise als Saumensch oder Tranfunzl bezeichnen kann, in der man abgrenzen und ausgrenzen kann, nach Fremden und Einheimischen trennen kann, je nachdem, ob jemand auf der Straße mit »’n Owed« oder mit »’n Obed« grüßt. »’n Obed« – lies: Guten Abend – sagt man auf der Straße nach dem Zwölfuhrläuten, »’n Obed« ist das einzige Wort, das sie in meiner Sprache noch für mich übrig haben, und nicht einmal das kriege ich heraus, wenn ich Magdeleines Mutter zwischen den Reihen der Gräber begegne und sie bei meinem Anblick »schier gar n Herzschlag« bekommt.

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