Seit ich ihre Fotografien schwarz auf weiß gesehen habe, kann ich mich nicht mehr von diesen beiden Männern lösen, weder vom Fleischhauer Kummerer noch vom Totengräber von Tramin; wenn mir von letzterem träumt, dann glotzt er mich durch dicke, kassengestellte Brillengläser an und bleckt die schiefen Grabsteinzähne, bis ich mich irgendwann aus den Laken schäle und ein, zwei Sätze ins kleinkarierte Notizbuch schreibe, das die Maserung einer Krokodilshaut hat.
Archiv für den Monat: Dezember 2014
Tagebuch (2)
Unter Glockenläuten, geläutert, strömen sie in die Kirche, neugierig beäugt sie das ungehobelte Jesuskind unter Wimpern, in denen noch die Sägespäne kleben. Sie tauchen spitze Finger ins Weihwasserbecken und malen sich das Kreuzzeichen auf die Stirn, führen die Fingerkuppen zur Nase und atmen für einen Moment den zugleich beißenden und betörenden Geruch von Benzin ein.
Eine seltsame Stimmung überkommt die Anwesenden und löst sich nach und nach in Wohlgefallen auf, schon genügen den Ersten die Fingerkuppen nicht mehr, sie tauchen die ganze Hand ins Weihwasserbecken oder berühren im Vorbeigehen mit nassen Patschehänden die Zehen des Jesuskindes, nein, es ist nicht kitzelig, es bleibt stumm und presst die Lippen aufeinander, dennoch breitet sich, anfangs kaum hörbar, ein Kichern im Kirchenraum aus, schwillt zu einem lauthalsigen Lachen an, das von den Wänden widerhallt und im Kreuzgang echot; dem Jesuskind blättert die Farbe von den lackierten Zehennägeln, der Pfarrer, das schüttere Haar in wirren Strähnen und ein irres Funkeln in den Augen, taucht einen Rosshaarpinsel in einen Eimer Bondex Holzlasur und schreitet unter einer Litanei von Segnungen die aufgereihten Benzinkanister ab, den Pinsel wie einen Weihwassersprenger in die Luft stoßend. Man greift sich Kanister um Kanister und beginnt damit, das Kirchenmobiliar zu segnen, wie begossene Pudel stehen die heiligen Schnitzfiguren in ihren Mauernischen, ein öliger Film rinnt ihnen vom Haupt bis an die Füße, sammelt sich am Sockel in schillernden Pfützen. Erste Spritzer erreichen die Empore und ziehen dunkle Schlieren über die kassettierte Holzdecke. Ein Rinnsal klettert über die Stufen der Kirchentreppe nach unten und sammelt sich auf dem Trottoir, zeichnet ein mäanderndes Muster ins Pflaster, schwillt zu einem Bach an, der die Dorfstraße hinunterläuft und in den Holzweg hinein, zum Wiesental hinaus, wo das Kind in mir auf der gefrorenen Erde sitzt und mit einer Zündholzschachtel hantiert, den vor ihm im Gras aufgebahrten Heuschrecken Fürbittkerzen abbrennt, um die Totenruhe zu stören, den Gottesacker aufwühlen zu lassen von heuschreckenköpfigen Gestalten, die sich vor lauter Lachen die Bäuche halten und sich in ihren Gräbern hin und her werfen – sie, denen man für gewöhnlich mit einem Nelkenstrauß das zähneklappernde Maul stopft, soll keiner mehr totschweigen können. Eine Benzinlache bildet sich zu Füßen des Kindes in mir, das mit dem Feuer spielt und die Hymne der Zündholzfabrik summt, »Schwef’lhelzle, Schwef’lhelzle muss mer han, dass mer alle Agenblick a Feuer machen kann.«
Ich sitze in der Kirchenbank und blicke zum Heiland, den sie für den heutigen Tag schick gemacht haben – die Lumpen, die man hinterm Schuppen gefunden hatte, haben sie ihm um die magersüchtigen Hüften gewickelt und unter dem festen, geblähten Bäuchlein verknotet. Etwas stiehlt sich in seine Leichenbittermiene, er riecht Lunte, rümpft die Nase und verdreht die Augen, lässt seine Pupillen auf Grund laufen, versenkt sie im Schilf seiner Wimpern. Feuer frei, wenn ihr das Weiße in den Augen seht.
Notizen (3)
Gläubig, ich? Nein, ich kann mich nur wundern.
Notizen (2)
Noch steht sie mir offen, noch habe ich einen Fuß in der Kirchentür. Die Heiliggeisttaube wittert – ruckedigu – das warme Blut, das langsam meinen Sonntagsschuh füllt. Ich könnte sie rupfen und mir in mühsamer und letztlich vergebener Liebesmüh einen Federkiel herstellen, damit ich endlich wieder Freude am Schreiben finde – oder ich stecke dem Kind das weiße Gefieder ins Haupthaar und stemme es, mit fremden Federn geschmückt, an den Hüften in die Höhe, »Heiland reiß den Himmel auf«, könnte ich rufen, während die Rippen meiner Finger ein pochendes Kinderherz umklammern.
Notizen (1)
Über ihren Köpfen schlagen die Kirchenglocken im Herbstwind aus.
Inmitten der Wartenden eine Frau, hochgewachsen und schön wie ein Transvestit. Einer beugt sich zu ihr hinüber und schreckt den Vogel ihres Lachens auf. Der Pfarrer, nachdem er sich dreimal von seiner Haushälterin hat verleugnen lassen, steigt die Stufen zur Kirche hinauf, angekündigt durch den Ruf der Chorleiterin: »Isser endlich von de Tote ufferstande?«
Tagebuch (1)
In der Nacht ruft die Mutter.
Auf der Türschwelle ihrer Schlafstube stehend betätige ich den Lichtschalter und erfahre von ihr, der Bettlägerigen: der Rauchfangkehrer sei in der Stube gewesen.
Ich gehe zum Nachttisch und drehe den Wecker in ihre Richtung – zwei Uhr zeigt das Ziffernblatt – versichere ihr, es sei noch Nacht, sie habe geträumt; mache kehrt, bleibe auf dem Absatz stehen und sehe ihren Kopf ins blumengemusterte Kissen sinken, bevor ich das Licht in der Schlafstube lösche und noch einige Zeit durchs Haus gehe, auf der Suche nach dem Schwarzen Mann. Zurück in meinem Zimmer streife ich mir das Nachtgespenst von den Schultern und hänge es über die Sessellehne, bevor ich mich wieder ins Bett lege, den Geschmack von Fieber auf den Lippen. Mich, denke ich an der Kante zum Schlaf, soll einmal der Fleischhauer Kummerer holen, mir mit dem Hammer, den er mühelos in der Hand wiegt, einen geübten, genau bemessenen Schlag vor die Stirn versetzen. Seinen Blick, das akkurat gestutzte Hitlerbärtchen werde ich mit hinübernehmen.
Am nächsten Morgen – dem nächsten Morgen – will sie sich nicht mehr an ihr Aufwachen, ihr Rufen erinnern, verneint, während sie ihren Weck in den milchigen Kaffee tunkt, ihre nächtliche Begegnung, und auch ich glaube kurz an einen Fiebertraum, am besten, sage ich mir, einen schon seit Tagen andauernden – und versichere mich doch des Fortlaufs der Welt, indem ich erneut mit der Lektüre der Tageszeitung beginne, denn sie lässt sich heute sehr viel Zeit mit ihrem Frühstück oder mir fällt ihre Langsamkeit heute besonders auf, weil ich es eilig habe und ihr nichts vom Grund meiner Eile erzählen kann, denn sonst müsste ich eine Geschichte hervorholen, die mir noch früh genug am heutigen Morgen von unten an die Kehle springen wird und die sie, würde ich sie hervorholen und ihr am Frühstückstisch erzählen, beim Ankleiden im Bad schon wieder vergessen hätte.
Als sie nach der Morgentoilette wieder im Bett liegt, gehe ich ein letztes Mal in die Küche, auf der Anrichte steht noch das Wasserglas, aus dem ich des Nachts ein paar metallene Schlucke genommen hatte – es finden sich zwar keine Abdrücke rußschwarzer Finger daran, aber an der Innenseite dokumentieren feine Ringe die regelmäßigen Abstände meiner nächtlichen Streifzüge. Auf dem zum Untersetzer degradierten Kirchenblatt hatte ich es nach dem letzten hitzigen Lippenbekenntnis abgestellt, und jetzt vergrößert ein letzter Rest Leitungswasser am Glasboden Uhrzeit und Anlass des heutigen Gottesdienstes, in Fettschrift, die mir als zäher Schauer den Rücken herunterläuft, während ich die Jacke vom Haken nehme – das Gotteslob als Wackerstein in der Tasche – und geübten, genau bemessenen Schrittes das Haus verlasse.