Tagebuch (1)

In der Nacht ruft die Mutter.

Auf der Türschwelle ihrer Schlafstube stehend betätige ich den Lichtschalter und erfahre von ihr, der Bettlägerigen: der Rauchfangkehrer sei in der Stube gewesen.

Ich gehe zum Nachttisch und drehe den Wecker in ihre Richtung – zwei Uhr zeigt das Ziffernblatt – versichere ihr, es sei noch Nacht, sie habe geträumt; mache kehrt, bleibe auf dem Absatz stehen und sehe ihren Kopf ins blumengemusterte Kissen sinken, bevor ich das Licht in der Schlafstube lösche und noch einige Zeit durchs Haus gehe, auf der Suche nach dem Schwarzen Mann. Zurück in meinem Zimmer streife ich mir das Nachtgespenst von den Schultern und hänge es über die Sessellehne, bevor ich mich wieder ins Bett lege, den Geschmack von Fieber auf den Lippen. Mich, denke ich an der Kante zum Schlaf, soll einmal der Fleischhauer Kummerer holen, mir mit dem Hammer, den er mühelos in der Hand wiegt, einen geübten, genau bemessenen Schlag vor die Stirn versetzen. Seinen Blick, das akkurat gestutzte Hitlerbärtchen werde ich mit hinübernehmen.

Am nächsten Morgen – dem nächsten Morgen – will sie sich nicht mehr an ihr Aufwachen, ihr Rufen erinnern, verneint, während sie ihren Weck in den milchigen Kaffee tunkt, ihre nächtliche Begegnung, und auch ich glaube kurz an einen Fiebertraum, am besten, sage ich mir, einen schon seit Tagen andauernden – und versichere mich doch des Fortlaufs der Welt, indem ich erneut mit der Lektüre der Tageszeitung beginne, denn sie lässt sich heute sehr viel Zeit mit ihrem Frühstück oder mir fällt ihre Langsamkeit heute besonders auf, weil ich es eilig habe und ihr nichts vom Grund meiner Eile erzählen kann, denn sonst müsste ich eine Geschichte hervorholen, die mir noch früh genug am heutigen Morgen von unten an die Kehle springen wird und die sie, würde ich sie hervorholen und ihr am Frühstückstisch erzählen, beim Ankleiden im Bad schon wieder vergessen hätte.

Als sie nach der Morgentoilette wieder im Bett liegt, gehe ich ein letztes Mal in die Küche, auf der Anrichte steht noch das Wasserglas, aus dem ich des Nachts ein paar metallene Schlucke genommen hatte – es finden sich zwar keine Abdrücke rußschwarzer Finger daran, aber an der Innenseite dokumentieren feine Ringe die regelmäßigen Abstände meiner nächtlichen Streifzüge. Auf dem zum Untersetzer degradierten Kirchenblatt hatte ich es nach dem letzten hitzigen Lippenbekenntnis abgestellt, und jetzt vergrößert ein letzter Rest Leitungswasser am Glasboden Uhrzeit und Anlass des heutigen Gottesdienstes, in Fettschrift, die mir als zäher Schauer den Rücken herunterläuft, während ich die Jacke vom Haken nehme – das Gotteslob als Wackerstein in der Tasche – und geübten, genau bemessenen Schrittes das Haus verlasse.

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