Tagebuch (4)

Auf Milchfüßen läuft eine Frau vorbei. Mein Daumen stolpert über die Rille im Porzellan der Kaffeetasse, aus dem Zuckerpäckchen rieselt Sand auf die Tischplatte. Musik dudelt aus dem Kassettenspieler einer im Schneidersitz auf dem Straßenpflaster hockenden Alten, zu deren Füßen ein Beutel mit Münzgeld liegt, eine Decke, auf der sie ihre Devotionalien ausgebreitet hat. Touristen belagern einen Drehständer mit Bodenseepostkarten, abschweifende Blicke streifen die auf der Straße sitzende, unablässig über einen hölzernen Kruzifixus streichelnde Alte, die eben unter Geckern dem Heiland den blauen Verschluss einer Oranginaflasche auf den Kopf gesteckt hat, wie man Fingerhüte auf Finger steckt. Zeige- und Mittelfinger der Alten liegen unter dem Brustkorb, in der Magengrube des zukünftigen Jesuleichnams und erzittern dann und wann unter seinen Spasmen; mit Zeige- und Mittelfinger tätschelt sie das feste, über den die Scham verhüllenden Lumpen verknotete Bäuchlein, um dem Heiland ein finales Bäuerchen zu entlocken – »S wird scho wiedr gut, heul e bissle, lach e bissle, loss e Fürzle fahre« – damit er seinen Geist in die schwüle Luft aushauchen und den Konstanzern am dritten Tag aufs Dach regnen kann. »Klementinen, prächtige, weihbewässerte Klementinen«, könnte der Obsthändler dann rufen, stattdessen steht er an den Kisten mit den grünen, in steifes Papier eingeschlagenen Äpfeln und starrt auf ein schwarzes Kreuz: Ein String ragt aus dem Hosenbund einer Touristin, die in die Hocke gegangen ist, um ihrer weinenden und die quietschende Gummihaut eines Luftballons einspeichelnden Tochter eine Wassermelonenscheibe gegen die aufgeschürfte Kniescheibe zu drücken. Die in Papier eingeschlagenen Äpfel leuchten vom Insektenvertilgungsmittel, das Kind schreit, ein Melonenkern klebt ihm auf der Schürfwunde und wird dort unter weißem Grind und einem blauen, in Melonenfruchtwasser getränkten Kinderleukoplast den Winter überdauern, um frühjahrs zu keimen. Der Kassettenspieler dudelt, es musizieren, schon verblichen, Mickey Mouse und Donald Duck. Auf einem gerahmten Andachtsbild hält ein Engel, ein von grünen und rosaroten Tüchern verhüllter Hermaphrodit mit einem Stern auf der von blonden Locken bekränzten Stirn, seine Hände über zwei fahlhäutige, am Rand eines Abgrunds spielende Kinder; Engels Hände und Antlitz sind fahl und von aschgrauer Farbe. Kastanien schlagen mit hellem Klang auf die feuchten Pflastersteine. Rote und grüne Fruchtgummis in Erdbeer und Waldmeister hält die Alte den Touristenkindern hin, die ihr das von den Eltern zugesteckte Postkartenwechselgeld in den Münzbeutel fallen lassen. Ein braungelocktes Mädchen mit großen, dunklen Augen hat sie zu sich gezogen und singsangt ihm ins Ohr. Neugeborene tragende Bastkörbe jagen den Rinnstein hinunter. Ich zerknülle das Zuckerpäckchen und ziehe den Füllfederhalter aus seiner Schlaufe am Notizbuch, lege meine Stirn in Falten und ziehe Furchen über das steife Papier. Ich spüre Keltermanns Blick auf mir ruhen, werde mich aber davor hüten, ihm zu verraten, dass ich soeben, zwischen Kaffee und Zigarette, diese gichtige Alte habe erfinden müssen, weil es hier sonst nichts gibt, das notierenswert wäre oder mit dem es mir gelingen könnte, das Kind in mir aus seinem Versteck im katholischen Bodenseezeltlager zu locken und ihm schreibend, zwischen Kaffee und Zigarette, auf die Schliche zu kommen. Keltermanns Bitte, die Rechnung zu übernehmen, quittiere ich mit einem Nicken.

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