Tagebuch (11)

Nicht auszudenken: wenn man nicht mehr auszudenken ist.
Inzwischen, hatte Keltermann gesagt, bevor es im Zimmer still und dunkel geworden war, sei es ihm unmöglich, ein fremdes Buch zu lesen, und er sage ganz bewusst fremdes Buch, denn inzwischen seien ihm die meisten Bücher fremd geworden, abgesehen von wenigen, denen von Cioran und Nietzsche vielleicht; der Rest lasse ihn kalt. Da er bereits alle in ihm vorhandenen Gefühle und somit Täuschungen aus ihnen heraus- und wieder in sie hineingelesen habe, bleibe ihm inzwischen nur noch, dem Lieben und Scheitern und Sterben all dieser belanglosen Figuren ohne jede Gefühlsregung beizuwohnen, und deshalb, hatte er geendet, scheine ihm inzwischen jedes Wort verloren, das nicht aus ihm selbst komme.

Daraufhin hatte sich die Dunkelheit im Zimmer ausgebreitet, die weniger eine Veränderung der Lichtverhältnisse gewesen war, als vielmehr die Folge einer stillen Übereinkunft: es sei jetzt Nacht und das Notwendige gesagt.

Mir war geblieben, in die Schwärze zu starren – Magdeleine und Keltermann hatten schon in der Gaststätte Alkohol bestellt und, zurück im Pensionszimmer, die letzte Flasche Wein vom Vortag entkorkt, die während eines zwar angeregten, insgesamt aber auf das Notwendige und Offensichtliche beschränkten Gesprächs über das Schreiben geleert wurde und schließlich, wie um Keltermanns zögerliches, lange im Schweigen vor dem Einschlafen hängendes Fazit zu unterstreichen, vom Bett gerollt und dumpf auf dem Teppichboden aufgeschlagen war – und mich zu erinnern, vor Jahrzehnten unter der Linde am Kriegerdenkmal gesessen zu haben, zu einer Zeit, als ich im Dorf längst zum mahnenden Beispiel geworden war, und ein Buch gelesen zu haben, dessen Titel und Autor ich auch heute noch mühelos hersagen kann und dessen Seiten mit dutzenden kleiner Pfützen übersät gewesen waren – nein, keine Tränen, sondern Tautropfen –, darin sichtbar: spiegelverkehrte, in feine Härchen zerfasernde Buchstaben.

Gut möglich, denke ich mir am nächsten Morgen, dass es die stille Übereinkunft, das Gespräch zu beenden und dem Schweigen und der Dunkelheit das Feld zu überlassen – Magdeleine hatte vielleicht schon geschlafen –, gar nicht gegeben hatte, dass sie vielmehr eine willkommene Ausrede für mich gewesen war, meinen Widerspruch unausgesprochen zu lassen; denn natürlich hätte ich Keltermann jederzeit widersprechen können. Er kenne doch, hätte ich ihm erwidern können, das Ausmaß und die Tiefe seiner Täuschungen noch nicht, darin liege nämlich die eigentliche Täuschung: zu denken, er könne von seinem Lesen als einem vergangenen und somit von seinem Schreiben als einem gegenwärtigen sprechen – so, als könne es Worte geben, die tatsächlich aus ihm kämen, als könne er sich auf- und niederschreiben, als läge das eigentliche Ziel nicht darin, sich wegzuschreiben, sich so gründlich auf- und davonzuschreiben, bis man sich selbst fremd geworden ist. Das hätte ich ihm erwidern können, denke ich mir und spüre noch einmal dem Gefühl der Fremdheit nach, das ich in der Gaststätte so deutlich empfunden hatte, als ich vom Telefonat mit der Kusine an den Tisch zurückgekehrt war, mich den beiden gegenübergesetzt und sie mit dem gleichen unverwandten Blick betrachtet hatte wie die Heiligen- und Stifterfiguren in der Friedhofskapelle, deren Broschüre – »Geschichte und Bedeutung der Wandmalereien«, et cetera – immer noch nachlässig zusammengefaltet in meiner Gesäßtasche steckt.

In der Nacht hatte mir von einem Gestrüpp aus Worten geträumt, kahl und widerspenstig wie eine Dornenhecke, von hölzernen Fingern, die sich nach dem Wasser strecken und unlesbare Gesten formen, ineinandergreifend und sich wieder voneinander lösend.

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