Tagebuch (12)

Muss ich ihn begreifen, um ihn loswerden zu können? Ich könnte ihn mir als Figur vorstellen – ich habe schon längst damit begonnen –, ins längst verworfene epische Präteritum wechseln und seinen Werdegang schildern.

Zum Schreiben kam Keltermann durch eine jener Entscheidungen, die sich stets nicht unbemerkt, aber doch mehr oder minder unbewusst in ihm formten; die sich als Reaktion, als verdrehtes Abbild von Gesehenem und Erlebtem, nur dann in der Lochkamera seines Schädels entwickeln konnten, wenn dieser Prozess nicht durch den übermäßigen Lichteinfall einer kritischen Reflexion unterbrochen wurde. Dieser abgeschottete Raum – es durfte nur der dünne Lichtstrahl seiner Sinneswahrnehmungen einfallen – war notwendig, um seinen Entschlüssen Kontur zu verleihen; stets haftete ihnen das Moment des Abrupten an. Kaum verwunderlich, dass im Dorf schon früh an seiner Legende gestrickt wurde. Sein Gefolge bestand aus denen, deren Eltern ihnen den Umgang mit ihm untersagt hatten, und die gespannte Erwartung des nächsten Ausbruchs bestimmte ihr Verhältnis zu ihm. Egal, wie lange sie ihn schon kannten, für wie lange sie ihn in der ihnen zugewiesenen, genau bemessenen Umlaufbahn umkreisten: Nicht nur Keltermann selbst, sondern auch ihnen mussten seine ebenso abrupten wie folgenschweren Entschlüsse umso klarer und logischer erscheinen, je blinder sie aus ihm herausbrachen.

Die Konsequenz, mit der er sie in die Tat umsetzte, hinterließ Eindruck: etwa im Milchglas der Kellerfenster, die er mit Pfeil und Bogen des gleichaltrigen, auch nicht gerade heilig zu nennenden heiligen Sebastian traktierte – und offene Münder: etwa in den Konsolen der Automobile, in denen kurz zuvor noch ein Blaupunkt Autoradio gesteckt hatte.

Vielleicht begann er mit dem Schreiben, weil es zum Schreiben wie zum Aufbrechen von Autotüren nur ein Werkzeug und das nötige Maß Skrupellosigkeit braucht; aber auch wenn sich der Entschluss, mit dem Schreiben zu beginnen, in Art und Entstehung nicht von den vorangegangenen, in ihrem Wunsch nach Abseitigkeit und Provokation offensichtlicheren unterschied, musste ihm klar gewesen sein, dass diese beiden Ausdrucksformen seiner Persönlichkeit strikt voneinander zu trennen waren.

Ich kann nicht sagen, was er sich von mir versprach; vielleicht gerade die unüberbrückbare Distanz, die schon unsere Lebensalter mit sich bringen.

War ich ernüchtert gewesen, als ich die ersten Blicke auf seine ungeordneten, in ungelenker Handschrift abgefassten Gedichte und Prosafragmente geworfen hatte? Ernüchtert, dass sich der erhoffte subversive Charakter lediglich in der Selbstverständlichkeit zeigte, mit der er sich das Schreiben aneignen wollte wie einen fremden Besitz?

Ich habe, denke ich mir jetzt – ich beäuge wechselweise Keltermann und den Schmierzettel, der ostentativ vor ihm auf der Tischplatte liegt –, niemanden entdeckt, sondern mir jemanden aufgehalst.

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